Rheingau-Roulette
Die Einfahrt wurde auf der rechten Seite durch eine große, stehende, unverkennbar männliche Steinskulptur begrenzt. Sie war nackt, ähnelte aber keineswegs einer griechischen oder italienischen Statue. Die Skulptur hatte ein Ungleichgewicht der körperlichen Proportionen; die Arme lang, bis zu den Kniekehlen, die Beine kurz und die Haltung war insgesamt gebückt. Das Gesicht war verzerrt und der Oberkörper in der Taille verdreht. Es war keine Statue, die körperliche Schönheit repräsentierte, aber männliche Kraft und Vitalität. Sie lud den Betrachter durch ihre Haltung ein, den Hof zu betreten, ja, sie symbolisierte nicht nur Einladung, sondern geradezu Verlockung.
Am linken Eck der Hofbegrenzung war eine Trockenmauer, über die üppiger Efeu hing. Zur Mitte der Einfahrt hin wucherte eine Hecke aus wilden Rosen, Lorbeer und Thuja, die zu einer endlosen grüngrauen Mauer verschmolzen. Diese vermeintlich geschlossene Front wurde durch große Findlinge unterbrochen, auf denen grotesk aussehende steinerne Fabelwesen grinsten.
Als Alexandra den Hof betrat, erschien es ihr, als betrete sie eine andere Welt. Es roch nach Stein, trockenem Land und kühlem Mörtel. Im Hof stand linker Hand eine Linde. Noch nicht sehr groß, zweifellos erst gepflanzt, als die ersten Bauarbeiten begonnen hatten. Der noch dünne Stamm war weiträumig von einer achteckigen, hölzernen Bank umgeben, auf deren Lehne kleine Kobolde aus Speckstein saßen und frech in die Luft schauten. Etwa bis zur Hälfte war der Hof gepflastert, der Rest war grasbedeckt oder geschottert. Der Eindruck des großen, aber äußerlich etwas verkommen wirkenden Haupthauses beherrschte den Blick auf den Hof. Der Eingang war über eine Freitreppe zur erreichen. Das Anwesen war mit Efeu bewachsen, der kaum noch etwas von der Außenwand sichtbar ließ. Der nicht durch Grünpflanzen bedeckte Teil der Hauswand zeigte zerbröckelnden Putz in einem diffusen Eierschalenweiß.
Das, was von der früheren Scheune auf der rechten Seite vorhanden war, war im Stile Hundertwassers neu gestaltet. Bunte Flächen, mit allerlei blauen, weißen, roten und güldenen Verzierungen schmückten den Gebäudeteil, der offensichtlich von einem Künstler gestaltet worden war. Das heißt, auf den ersten Blick sah es aus wie Hundertwasser. Dann wurde Alexandra klar, dass hier jemand eine ganz eigene Bildsprache zum Ausdruck brachte. Waren die gestalteten Flächen auch ungleich, ähnlich dem Hundertwasserstil, so waren sie doch anders. Feine Ziselierungen durchbrachen die Buntheit der Flächen und hinterließen den Eindruck spanischer Einflüsse. Gleichzeitig wurden Bereiche sichtbar, deren Ursprung keltisch zu sein schien und sich in mexikanisch anmutender Ornamentik verlief. Es war ein Stilmix verschiedenster Elemente, deren Zusammenwirken ein verwunschenes Bild ergab.
Sprachlos stand Alexandra vor diesem Anwesen und staunte. Caro berührte sie am Arm und sagte: „Es geht allen so, die Hannes das erste Mal besuchen! Das Atelier ist von dieser Seite nur halb so beeindruckend wie von innen. Er hat die Wand zur anderen Seite fast vollständig durch riesige Fenster ersetzen lassen. Innen drin gibt es eine Galerie, von der man einen phantastischen Ausblick auf den Wald hat. Und jede Menge Plastiken, Statuen und anderes Gedöns stehen rum. Dieses Anwesen ist ein Traum.“
Sie schob Alexandra aufmunternd weiter in den Hof hinein, den die anderen der Gruppe schon längst bevölkerten.
„Phantastisch“, sagte Alexandra und schaute ehrfürchtig auf die Eingangstür zum Atelier. Neben der Tür war eine kleine Tastatur mit Ziffern angebracht, das elektronische Schloss. „Das sieht ja aus wie ein Hochsicherheitstrakt!“ Sie wies auf die Tür, die mit zwei Kameras überwacht wurde.
„Na ja. Soweit ich weiß, hat er auch noch ne ganze Menge mehr Kameras installiert. Auf dem Hof, im Haupthaus. Er hat immerhin ziemlich viele wertvolle Dinge in dem Atelier stehen. Und außerdem ... ich könnte mir vorstellen, dass das nicht der einzige Grund ist.“
Bevor Alexandra nachfragen konnte, was Caro damit meinte, öffnete sich die Ateliertür und Hannes trat in den Hof. Er trug Jeans und T-Shirt und sah nach Arbeit aus. Die Hose war mit weißem puderigem Staub behaftet und er hatte eine Staubmaske in die Haare geschoben. Die Mädchen, die im Hof fangen spielten, stürzten sich freudestrahlend auf ihn.
„Wo ist unser Eis?“
„Im Tiefkühler!“
Hannes lachte amüsiert über die kleinen Mädchen und
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