Rheingold
versank für Sigmund die Welt um ihn herum aufs neue. Er wiegte seinen leblosen Sohn in den Armen, trug ihn aus der Halle, lief mit der schweren Last den Hügel hinunter und verschwand im dichten Nebel. Vom Wahnsinn seiner grenzenlosen Trauer getrieben, wankte er durch die dunkle Nacht. In seiner Brust spürte er das qualvolle Pochen der Schuld. Er weinte und tobte, stieß gegen Bäume und stolperte über Steine, als sei er nie durch einen Wald gegangen. Sigmund wußte nicht, wohin er lief und was er tun sollte. Er sah sich verraten und als Verräter. Sinfjotlis Augen standen offen. Die Dunkelheit hatte seine Pupillen inzwischen ganz durchdrungen. Sein Leib erkaltete und wurde starr. Bier tropfte ihm aus dem Mund. Und erst jetzt sah Sigmund mit der Sicht seiner Seele, die ihm das weltliche Leben von Kämpfen und Herrschen beinahe genommen hatte, das blaßgrüne Leuchten des Gifts, das Borghild in den Trank gemischt hatte. Warum sah er es erst jetzt und nicht in der Halle, als er seinen Sohn aufgefordert hatte zu trinken? Sigmund kehrte nicht um, als er schließlich durch Wasser watete. Irrlichter umtanzten ihn im dichten Nebel, der wie kalter Dampf aus einem schlammigen Kessel aufstieg. Er geriet immer tiefer in den Sumpf, dessen Rand er umherirrend erreicht hatte. Kein Weg tat sich vor ihm auf. Nur hin und wieder drang ein Mondstrahl durch die Nebelschwaden.
Es dauerte eine Weile, bis das rhythmische Klatschen in sein Bewußtsein drang. Verwundert blieb er stehen und versank noch tiefer im Schlamm. Aus dem Dunst tauchte langsam ein kleines Boot auf und trieb auf ihn zu. Nur das klatschende Eintauchen der Ruder wies darauf hin, daß kein Geist oder ein Traum ihm die Sinne verwirrte. Der Bootsmann war in einen weiten dunklen Umhang gehüllt. Ein breitkrempiger Hut verdeckte sein Gesicht. Er stieß das Ruder in den sumpfigen Grund und hielt das Boot in einigem Abstand von Sigmund an.
»Soll ich dich hinüberrudern?« rief der Mann mit rauher Stimme. »Ja«, antwortete Sigmund tonlos.
»Das Boot ist für uns drei zu klein. Ich nehme deine Last. Du kannst mich bezahlen, wenn ich zurückkomme, um dich zu holen.« Er ruderte näher, und Sigmund watete ihm entgegen. Das kalte Wasser drang durch seine Hose und reichte ihm fast bis zu den Knien, als er am Boot stand. Er hob die gefühllosen Arme und legte Sinfjotli in das kleine Boot. Der Fährmann ruderte los, und Sigmund taumelte zurück ans feste Land.
Er sah das Boot nur noch als dunklen Schatten, der auf das offene Meer zutrieb. Sigmund schrie ihm nach, aber der Fährmann antwortete nicht. Das Boot verschwand im Nebel, und Sigmund sah es nie mehr. Er wartete, bis der Mond hinter dem Horizont versank, aber der Fährmann kehrte nicht zurück...
Die Lagerfeuer am Ufer glühten nur noch schwach. Der Gesang des Skops war längst verstummt; die Männer lagen in den Zelten und schliefen. Für Sigmund gab es keinen Schlaf, denn er wußte, schlimmer als alles wog, daß Siglind nicht mehr in seiner Nähe war. Nach Sinfjotlis Tod schien sie sich ganz von ihm gelöst zu haben, und seit dieser Zeit war das Leben für ihn nur noch öde Pflicht und ein Netz der Erinnerungen, das ihn fesselte, wie kein Eisen es vermochte, wie eine Peitsche, die ihn Nacht für Nacht strafte.
Nachdem Borghild in das Land ihres Vaters abgereist und Sigrid trauernd zu den Friesen heimgekehrt war, schickte Sigmund seine Boten bis an die Grenzen des römischen Reiches. Er suchte eine andere Frowe, die an seiner Seite sitzen sollte. Mit seinen Kriegern bereitete er sich auf die Brautwerbung vor und rüstete seine Schiffe aus, denn der unbestimmte Gedanke war inzwischen zur Gewißheit geworden: Er mußte in den Süden ziehen und für sich und sein Volk Land suchen, um vielleicht dort einen neuen Anfang zu finden. Aber dann kam die Zeit der Ernte, und alle arbeiteten auf den Feldern. Erst im Winter, als die Stürme bereits über die Nordsee brausten und die Gischt wütend am Ufer aufschäumte, erschien Paltwini, der Skop, durchnäßt und frierend in Sigmunds Halle.
Sigmund wies ihm den Platz dicht neben dem Feuer an, legte dem Skop einen dicken Pelzumhang um die Schultern und ließ ihm heißes Bier bringen. »Mit welchen Nachrichten kommst du aus dem Süden?« fragte Sigmund, nachdem sich Paltwini am Feuer aufgewärmt hatte.
»Von den Alemannen weiß ich nichts, aber Awilimo, der Herrscher der salischen Franken auf der römischen Seite des Rheins, hat eine Tochter. Sie heißt Herwodis. Sie ist vierzehn
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