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Rheingold

Titel: Rheingold Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Grundy
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sonst hätten sie erschrocken das Donnerzeichen geschlagen oder schützend nach ihrem Bernsteinamulett am Hals gegriffen.
    Als Wotan schließlich an Land ging, wanderte er schnell in Richtung Osten. Ein starker Wind blies in seinem Rücken und blähte seinen dunklen Umhang wie Rabenschwingen. Hin und wieder kam er durch Dörfer, wo noch dünner Rauch aus der Asche verkohlter Grasdächer und lehmbeworfener Flechtwände aufstieg. Manchmal kam er durch Städte, wo Hunde ihn ängstlich anbellten oder sich winselnd und mit eingezogenen Schwänzen davonschlichen, wo gutgenährte Kinder am Daumen lutschten und den unheimlichen Fremden hinter den Röcken erschrockener Mütter hervor anstarrten. Er machte Rast in Siedlungen, wo er eine kranke Ziege wußte oder ein Kind mit einem gebrochenen Bein. Und wenn er mit dem Finger ein paar Runen darüber zeichnete und einen heilenden Spruch sprach, gab man ihm Unterkunft für die Nacht und etwas zu essen. Als er einmal eine Stadt verließ, riß sich ein magerer kleiner, sechs-oder siebenjähriger Junge von der Hand seiner blassen Mutter los und sprang auf Wotan zu, um seinen Speer zu berühren. Die Frau riß ihn erschrocken zurück und schlug ihn, bis er laut weinte. Wotan drehte sich um und sah den vor Aufregung zitternden Jungen mit seinem durchdringenden Blick an, und der Kleine verstummte sofort. »Geduld, Ansgar«, murmelte Wotan. Er wanderte auf dem schlammigen Weg weiter und erreichte schließlich einen dichten Wald, wo ein Wolf, der dem Geruch von Hirschlosung und Kaninchenwechseln folgte und den Markierungen seiner Brüder und Schwestern, mit denen sie anderen die Grenzen ihres Rudels wiesen, schneller als ein Mensch vorankam.
    Außer Sichtweite der Menschen ließ Wotan sich ein graues Fell wachsen, während Umhang und Kleidung verschwanden; die langen Hände des Mannes wurden zu Pfoten und das ernste Gesicht zu einer Schnauze, und schließlich starrte ein großer grauer einäugiger Wolf die grauen Büsche, die grauen Bäume und die grauen Wolken am Himmel an. Der Wind blies nach Westen und brachte anhaltenden Regen mit sich, der auf dem dicken Wolfspelz ebenso abperlte wie die Rinnsale von den schwarzen Ästen.
    Drei Tage vergingen, bis Wotan sich auf der anderen Seite des Walds wieder auf zwei Beine erhob. Er drehte den Kopf mit dem breitkrempigen Hut, sein Auge blickte forschend durch die Schatten des dunkel werdenden Himmels und durch die dichten Regenschleier. Über den Wolken erscholl der heisere Ruf eines Raben, dem ein zweiter krächzend antwortete. Sie riefen Wotan zu der Halle, die er von seinem hohen Sitz aus gesehen hatte, dem nächsten Ziel auf seiner langen Wanderschaft.
    Der Gott faßte den Speer fester am Griff und hob die Füße mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Schlamm. Wotan zog den feuchten Umhang als Schutz vor dem eisigen Wind enger um sich und wanderte weiter. Er folgte den unsichtbaren Gestalten von Hugin und Munin, die schwarz durch die Nacht und den aufziehenden Sturm flogen. Ein ferner Blitz zeigte die Geister-Raben nicht weit vor ihm. Sie kreisten wie gespenstische Fledermäuse in der blendenden Helligkeit, aber im nächsten Augenblick hatten die Dunkelheit und der eisige Sturm sie wieder verschluckt.
    Das schwache Leuchten in einiger Entfernung hätte ein anderer als der hellsichtige Gott nur für Wunschdenken gehalten, für eine Täuschung von Blitz und Phantasie, aber dieser Wanderer schritt zufrieden schneller aus. Ein zweiter Blitz von Thors Hammer zeigte die Umrisse einer Halle, die zwischen niedrigen Lehm- und Weidenhütten aufragte. Licht drang aus den Rauchfängen und aus dem offenen Tor, als ein Mann ins Freie torkelte. Wotan hörte den Mann im prasselnden Regen, der das Plätschern seines dünnen Strahls übertönte, unterdrückt fluchen. »Bei Wotan und Thor! Die Götter haben zuviel gesoffen!« Er verschwand mit unsicheren Schritten eilig wieder in der Halle und verriegelte das schwere Eichentor hinter sich.
    Das Echo des zuschlagenden Torflügels war kaum verhallt, als ein deutlich vernehmbares Klopfen durch die Halle tönte. Es klopfte nicht besonders laut, aber alle Männer in der Halle -und die Frowe Schwanhild - hoben wachsam den Kopf wie Hunde, die im Wind den Wolf wittern. Es klopfte dreimal, dann war alles wieder still. Die Menschen in der Halle sahen sich verblüfft an. »Kaum zu glauben, daß ein ehrlicher Mann heute nacht da draußen ist«, sagte Dagabert, der Drichten, »Nodgar, hast du da draußen etwas

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