Rheingrund
Privatdetektivin zu beherbergen, auf ihre Weise romantisch. Den Ausschlag aber gab Leopold, der sich zu Norma hingezogen fühlte und dessen Versorgung dank Norma gesichert war, wenn Eva die Wochenenden bei ihrem Freund in Köln verbrachte.
Der Feierabendverkehr hatte früh eingesetzt, und der Weg über die Autobahn erwies sich als Zeitfalle. Ein Stück vor der Ausfahrt nach Biebrich gerieten die Kolonnen auf beiden Spuren ins Stocken. Norma nutzte die Pausen und dachte über Marika nach. Was konnte der jungen Frau zugestoßen sein? Drei Varianten waren möglich. Zum einen der Freitod. Wenn Marika sich tatsächlich umgebracht hatte, musste man – nach allem, was menschenmöglich war – dankbar sein, dass die junge Mutter nicht das Kind mit in den Tod genommen hatte. Ruths Hoffnung, die Tochter führe auf einem hübschen Fleckchen Erde ein beschauliches Dasein, setzte einen Liebhaber voraus, der Marika die Flucht und zumindest den Start in das neue Leben finanzierte. Marika hatte weder vor noch nach ihrem Verschwinden größere Geldbeträge von einem der bekannten Konten abgehoben, und die Ermittlungen konnten kein geheimes Konto zum Vorschein bringen. Wer kam in Frage, falls es diesen Mann überhaupt gab? Tatsächlich Bieler, wie Ruth annahm?
Blieb noch die dritte Möglichkeit, die Norma nicht gefiel, die sich aber hartnäckig in ihre Überlegungen drängte. War Marika ermordet worden? Wurde sie zum Opfer einer Beziehungstat, wie so viele, denen Mord und Totschlag das Leben kostete? Bernhard Inken besaß ein Motiv – Eifersucht – und zugleich ein Alibi. Seine Fürsprecherin war ausgerechnet Ruth. Er befand sich in ihrem Haus, während Marika mit der S-Bahn in Richtung Frankfurt fuhr. Andere Männer aus Marikas Umfeld waren Bieler, der zu der Zeit angeblich längst im Ausland war, und Martin Reber. Hatte Reber einen Grund, Marika zu töten? Konnte man sich den zuvorkommenden und sich bescheiden gebenden Reber überhaupt als Mörder vorstellen? Diese letzte Frage führte nicht weiter. Norma hatte lernen müssen, dass man besser damit fuhr, jedem Menschen alles zuzutrauen.
Die Autoschlangen setzten sich in Bewegung und lenkten sie von diesen düsteren Vorstellungen ab. Bald war die Ausfahrt zur Biebricher Allee erreicht. Fünf Minuten später hielt Norma vor dem Haus, öffnete das Tor und steuerte den Polo in den Innenhof. Ihr Parkplatz lag neben der Pergola, auf deren Balken sich schüchtern das erste Grün blicken ließ. So manchen Sommerabend hatte sie unter den wuchernden Reben ausklingen lassen, in Gesellschaft von Eva, dem Kater und einer gut gekühlten Flasche Rheingauer Riesling. Sie stellte den Motor aus, blieb aber im Wagen sitzen. Mit einem Mal wurde ihr bewusst, worauf sie sich einließ. Ausgerechnet Norma Tann, formulierte sie einen konkreten Gedanken, die den Polizeiberuf aufgrund psychischer Probleme aufgeben musste und heftig mit den bevorstehenden Gerichtsverhandlungen haderte, ausgerechnet sie wollte gärende Konflikte aufrühren und tief vergrabene Familiendramen ans Licht befördern? Woher sollte sie die Kraft nehmen? Das Durchsetzungsvermögen? Ihre Hände begannen zu zittern. Mit Mühe gelang es ihr, den Schlüssel abzuziehen. Sie spürte, wie das Blut aus dem Kopf in die Beine sackte und der Blick zu flackern begann, und stieß hilflos die Autotür auf. Als ob die kühle Luft eine Ohnmacht verhindern könnte.
Als sie zu sich kam, lag sie mit dem Kopf auf dem Beifahrersitz. Sie rappelte sich hoch, auf der Stirn klebte der kalte Schweiß. Auf unsicheren Beinen schloss sie das Hoftor und ging hinauf in die Wohnung. Das darf mir nicht wieder passieren, schalt sie sich selbst. Der Auslöser war nicht der Fall Marika, erkannte sie, sondern der verdammte Brief, der unten im Büro in der Schublade schmorte! Seit einer Woche lauerte er dort, und sie war seitdem zum zweiten Mal ohnmächtig geworden.
Sie duschte und kochte Kaffee. Vom ersten Schluck bekam sie Magenschmerzen, und sie leerte die Kanne über dem Ausguss aus. Sie brauchte einen klaren Kopf. Das gelang ihr sonst mit einem langen Spaziergang. Manchmal halfen auch die Yogaübungen, die sie sich mit Hilfe eines Buchs anzueignen versuchte. Der überstandenen Angstattacke ließ sich nur mit ausdauerndem Laufen begegnen. Vergangene Woche hatte Norma wieder mit dem Training begonnen.
Hastig streifte sie die Sportkleidung über und trug die staubigen Laufschuhe nach unten. Das Haus lag im ältesten Teil Biebrichs, einem Komplex schmaler Häuser
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