Rheingrund
und enger Gassen, der an den Schlosspark grenzte. Zum Rhein war es nur ein Katzensprung. Norma sog die kühle Luft ein. Nieselregen setzte ein, als sie am Ufer entlangtrabte, und erfrischte ihr Gesicht. In Schlangenlinien umging sie die Pfützen im weichen Kies und lief in zügigem Tempo durch die Rheinwiesen. Sie konzentrierte sich auf die Atmung: drei Schritte einatmen, vier Schritte ausatmen, drei Schritte einatmen. Sie fand ihren Rhythmus, und allmählich stellte sich die Zuversicht wieder ein. Bis zum Schiersteiner Hafen trugen die Beine sie mit Leichtigkeit voran, doch der Rückweg kostete Kraft. Unter der Schiersteiner Brücke legte sie eine Pause ein. Das Dröhnen und Rumpeln der Lastwagen und Autos auf der Autobahnstrecke hoch über ihr übertönte den sanften Anschlag der Wellen an das betonierte Ufer und mochte auch die Schreie der jungen Frau verschluckt haben, die an dieser Stelle in den Fluss gestiegen war, um sich mit dem Strom mitreißen zu lassen. Sofern sie es denn getan hatte.
Norma wandte sich vom Wasser ab und trottete weiter. Die Luft biss ihr in die Lunge, und der Puls jagte voran. Entschlossen hielt sie bis zum Ruderverein durch, bevor sie stehen blieb und nach Atem rang. Sie drückte die Faust gegen den Rumpf und ging im Schlenderschritt weiter, um die Seitenstiche zu besänftigen. Eine Frau überholte, rundlich, ältlich, flott unterwegs und kein bisschen aus der Puste, und nickte ihr kameradschaftlich zu. Norma ließ die Hand fallen und sah der Läuferin neidvoll nach. Man kann nicht so anfangen, wie man vor langer Zeit aufgehört hat, schalt sie ihre Unvernunft. In den Monaten nach Kolumbien war sie gerannt, als säße ihr der Teufel auf den Fersen.
Mit müden Beinen näherte sie sich der Platanenallee, die dem Schloss gegenüberlag. Der Herzschlag beruhigte sich, während sie langsam weiterschlenderte. Als sie erneut lostraben wollte, fiel ihr ein Jogger in roter Jacke auf. Er kam ihr mit energischen Schritten entgegen. Stahlgraue Haarspitzen ragten über ein breites Stirnband hinweg. Als der Mann sie erkannte, stoppte er abrupt.
Lutz betrachtete sie mit väterlicher Besorgnis. »Du bist verschwitzt und weiß wie eine Wand. Übertreibe es nicht!«
Norma trocknete sich mit dem Handrücken die Stirn. Ihr war ein wenig übel. »Läufst du heute nicht im Rabengrund?«
Die Villa Tann lag im Nerotal auf der nördlichen Seite der Stadt, und gewöhnlich zog er im Stadtwald seine Runden; am liebsten über den Neroberg, Wiesbadens Hausberg, bis hinunter zum Naturschutzgebiet im Rabengrund.
Die Abwechslung tue ihm gut, meinte er. »Außerdem habe ich in Biebrich zu tun.«
»Weil du zu mir willst?«
Sie freute sich, als er zustimmend nickte.
»Gehen wir ein Stück gemeinsam?«, fragte er und rief: »Immer langsam mit einem alten Mann!«, als Norma das Tempo anzog.
Sie schlugen einen zügigen Wanderschritt ein. Schweigend überquerten sie die Rheingaustraße und wichen einem entschlossen dreinblickenden Paar aus, das sich mit unermüdlichem Stockeinsatz vorankämpfte und den Fußweg für sich allein beanspruchte. Lutz sah dem Paar mit gerunzelter Stirn nach. Im Durchgang zum Schlosspark ließ er Norma den Vortritt. Eine Gruppe Kinder jagte einen Fußball über ein gepflegtes Rasenstück, auf dem vereinzelt hohe Bäume wuchsen. Auf diesem Platz wurde an drei Tagen im Jahr das Wiesbadener Pfingstturnier ausgetragen. Die Rufe der Kinder begleiteten Lutz und Norma bis an den Fuß der Treppe, die zur Rückseite des Schlosses hinaufführte. Oben angekommen, wandten sie sich nach links und bogen auf einen Hauptweg ein, der weit in den Park hineinführte. Norma spürte Lutz’ Blicke. Sie wusste, er machte sich Sorgen, ohne zu wissen, wie es wirklich um sie stand. Sie hatte nicht die Absicht, ihm von der erneuten Panikattacke zu erzählen. Er würde keine Ruhe geben und sie zu einer Therapie drängen. Das Letzte, das sie in dieser Situation ertragen könnte, war ein Aufdröseln ihrer Innenwelten.
Lutz blieb zurück. »Wir sind nicht auf der Flucht!«
Unabsichtlich hatte sie die Schritte beschleunigt. Inzwischen war sie auf der Höhe des Wasserbeckens angelangt, aus dem eine Fontäne hoch hinauf in den Abendhimmel sprühte, und wartete ungeduldig. Sie war sich sicher, dass er absichtlich langsam ging, um sie zu schonen.
Lutz schlenderte heran. »Ruth hat mich vorhin angerufen. Sie ist sehr enttäuscht, weil der neue Hinweis nichts ergeben hat. Du hattest recht. Die Sache ist aussichtslos.«
»Ist
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