Rheingrund
scharfen Kontrast zu dem sich darüber erhebenden schwarzgrünen Band des Waldes bildeten. In der anderen Richtung fiel der Blick auf das Rheintal mit seinen eng aufeinander folgenden Weindörfern und dem in einem breiten Bett strömenden Wasser.
Ruth ließ endlich die Lehnen los und legte die Hände wie Schalen ineinander. »Sie haben mir von Anfang an keine Versprechungen gemacht, Frau Tann. Und trotzdem … ich hatte so sehr gehofft. Und wenn Sie es selbst in Tasmanien versuchen? Ich würde selbstverständlich für die Reise und alle weiteren Kosten aufkommen.«
Norma war auf diese Bitte gefasst, und das Ziel klang verlockend, obwohl sie so gut wie nichts über die Insel wusste. Zu dem wenigen, das ihr dazu einfiel, gehörte der tasmanische Beutelteufel, dem man die Laune eines gereizten Stiers nachsagte. Allerdings, Norma war in gewissen Dingen altmodisch und besaß Prinzipien. Dazu gehörte der Entschluss, einer Klientin nicht mit einem aussichtslosen Auftrag das Geld aus der Tasche zu ziehen.
Die Sonne eroberte den Himmel zurück. Norma blinzelte und drehte sich aus dem Licht heraus. Behutsam erklärte sie: »Mein Kollege kennt sich auf der Insel sehr gut aus und hat die besten Kontakte, die ein ehemaliger Polizist nur haben kann. Trotzdem konnte er keinen Hinweis darauf finden, dass Ihre Tochter jemals dort eingereist ist. Allerdings hat man Bieler tatsächlich häufig mit einer Frau gesehen. Eine Frau mit Kind. Es gibt ein Foto von allen dreien.«
Marcel war, wie auch immer, an eine Aufnahme geraten, die auf einem Fest entstanden war, und hatte die Bilddatei per Mail geschickt. Der Ausdruck war von einer miserablen Qualität, reichte aber aus, um erkennen zu lassen, dass es sich bei der Frau im Abendkleid – blond und beinahe so groß wie der stolz lächelnde Mann neben ihr – unmöglich um die zierliche, dunkelhaarige Marika Inken handeln konnte. Der aufgeweckte Junge an ihrer Hand mochte vier oder fünf Jahre alt sein. Norma öffnete die Mappe mit den Unterlagen, die sie über Marika zusammengestellt hatte, und wollte das Bild herausnehmen, als der Hund aufsprang und winselnd zur Treppe lief. Unten auf der Straße, die von der Terrasse aus nicht zu sehen war, schlug eine Autotür zu.
Ruth reckte den Hals. »Das kann nur Martin sein! Arlo ist verrückt nach ihm. Und mir ist er der beste Freund. Er steht mir Tag für Tag zur Seite wie ein Sohn.« Kühl fügte sie hinzu: »Von meinem Schwiegersohn kann ich das nicht sagen.«
Martin Reber also, Bernhard Inkens Jugendfreund und Mitarbeiter in dessen Agentur für Film und Medien. Umwuselt von dem Hund, durchquerte er den Garten und stieg die Treppe hinauf. Auf halbem Weg hielt er inne und schaute zur Terrasse herauf. Er trug eine enge Radlerhose, ein dazu passendes Trikot und war von mittelgroßer Statur. Drahtig, beinahe mager, ein Sportlertyp mit hoher Stirn, das verbliebene Haar früh ergraut. Um seinen Hals baumelte ein roter Kunststoffstick, der zu erkennen gab, dass Reber seine Radtouren mit Musikgenuss würzte und Norma zu der stillen Frage verleitete, welche Art von Musik das sein mochte.
Oben angekommen, lächelte er entschuldigend. »Wenn ich gewusst hätte, dass du Besuch hast, Ruth. Ich möchte nicht stören.«
»Aber nicht doch!« Ruth umarmte ihn herzlich. »Ich habe dir von Frau Tann erzählt.«
»Die Privatdetektivin.« Er reichte Norma die Hand, setzte sich und legte einen Schlüsselbund auf den Tisch. Der Hund drückte ihm den Kopf auf das Knie, himmelte ihn an und ließ sich kraulen.
»Wohin geht deine Tour heute?«
»Am Kloster Eberbach vorbei und weiter in Richtung Geisenheim«, antwortete Reber. »Ich starte hier und lasse den Wagen vor dem Haus stehen, wenn es dir recht ist.«
»Selbstverständlich.« Ruth bedachte ihn mit einem liebevollen Blick, bevor sie sich Norma zuwandte. »Martin nimmt seinen Sport sehr ernst.«
»Gibt es etwas Neues über Marika?«, fragte Reber.
Norma zog das Foto aus der Mappe. »Ich gehe davon aus, dass es sich bei dieser Frau nicht um Ihre Tochter handelt.«
Ruth nahm das Blatt entgegen und wollte sich die Enttäuschung nicht anmerken lassen. »Das ist Bieler, keine Frage. Aber niemals Marika! Sie war anderthalb Köpfe kleiner als er.«
Norma fasste den Inhalt von Marcels Ermittlungen zusammen. »Bieler lebte zwei Jahre mit Frau und Kind in Hobart. Er drehte Dokumentarfilme über die Nationalparks. Es heißt, später sei er mit der Familie nach Australien gezogen. Darüber hat mein Kollege
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