Rheingrund
Unterlagen der drei Privatdetektive noch in den Aufzeichnungen der Polizei. Normas erste Recherchen ergaben, dass Bieler Deutschland wenige Wochen vor Marikas Verschwinden verlassen hatte. War die junge Frau ihrem Geliebten ins Ausland gefolgt und hatte alle Brücken hinter sich abgebrochen?
Der zweite gute Grund, nach Bieler zu suchen, war Ingas Frage nach ihrem leiblichen Vater. Als das Mädchen die Auseinandersetzung zwischen Ruth und Bernhard belauschte, zündete der neue, fremde Name ihre Fantasie. Was lag näher, als dem Geliebten der Mutter das Vaterglück zu unterstellen? Zumal Bernhard Inken – wie der DNA-Vergleich bewies – für diese Rolle zweifelsfrei ausschied. Norma glaubte zu verstehen, was in dem Mädchen vorging. Inga suchte einen Platz im Leben, einen sicheren Ort mit Menschen, denen sie vertrauen durfte. Die Mutter hatte sie verlassen, der vermeintliche Vater entzog sich der Verantwortung. Nun sollte eine Lichtgestalt namens Kai Kristian Bieler diese Lücke füllen.
Inga war in ihrem Verlangen nicht rücksichtslos. Sie wollte die Großmutter schonen, bis alle Zweifel ausgeräumt waren, und hatte Norma um Stillschweigen gebeten; ein Wunsch, der Norma in Verlegenheit brachte. Ihre Auftraggeberin war Ruth, die damit ein Recht auf alle neuen Erkenntnisse besaß. Anderseits fühlte Norma auch eine gewisse Fürsorgepflicht gegenüber ihren Mandanten. Ruth war zweifelsohne eine starke Persönlichkeit. Jedoch auch sie stieß an ihre psychischen Grenzen. Norma entschied sich für einen Mittelweg. Ruth sollte von Ingas Problem erfahren. Aber es musste nicht sofort sein. Zunächst galt es, Bieler überhaupt zu finden.
Tasmanien. Norma dankte der seltsamen Fügung, die einen ehemaligen Wiesbadener Kriminalkommissar ausgerechnet auf diese abgelegene Insel gesandt hatte. Marcel Thimm gehörte einmal zu ihren liebsten Kollegen im Kommissariat und hatte einige Jahre früher den Dienst quittiert, um nach Tasmanien auszuwandern und dort eine Schweizerin zu heiraten. Inzwischen führte seine Frau ein Hotel, und er begleitete Wandergruppen durch die Nationalparks. Norma erreichte jedes Jahr eine Weihnachtskarte mit der Einladung zu einer Trekkingtour und hin und wieder eine E-Mail mit Grüßen. Sie wusste, Marcel konnte das Ermitteln auch in seiner neuen Heimat nicht lassen. Er wurde nach Lust und Laune für Touristen und Einheimische tätig und sagte begeistert zu, als sie ihn um Hilfe bat. Während Marcel alle Register zog und Norma per Mails auf dem Laufenden hielt, nutzte sie ihre eigenen Möglichkeiten und Kontakte. Leider ohne Ergebnis. In Deutschland fand sich von Bieler keine Spur, und sie setzte alle Hoffnungen auf Tasmanien. Tage später schickte Marcel die ernüchternde Nachricht: Bieler hatte die Insel verlassen und blieb in Australien unauffindbar. Die heiße Spur war sehr rasch abgekühlt, und es gab nicht den geringsten Hinweis auf Marika.
So musste Norma den Auftrag nach nur einer Woche als festgefahren, wenn nicht gar als gescheitert betrachten. Mit diesem Ergebnis trat sie am frühen Nachmittag erneut die Fahrt in den Rheingau an.
Ruth war im Vorgarten beschäftigt. Sie nahm die Nachricht mit hoheitsvoller Gelassenheit entgegen und legte wortlos Korb und Rosenschere beiseite. Der Labrador begrüßte Norma wie eine gute Bekannte. Ruth eilte ihrem Gast voraus und führte sie über den Rasen zur Steintreppe, die den Terrassenhang teilte und zwischen unbelaubten Rosenstöcken in einem Bogen nach oben führte. Einen Tee lehnte Norma höflich ab. Was sie zu sagen hatte, brauchte wenig Zeit. Ruth bat sie, sich trotzdem zu setzen. Die Korbsessel erwiesen sich als erfreulich bequem. Ruth stützte sich auf die Armlehnen und verharrte wie eine Statue. Der Labrador zu ihren Füßen, der den Kopf mit einem Grunzen auf die Steinplatte senkte, und die zerknitterte Wachsjacke verliehen ihr den Anschein einer englischen Lady. Norma schaute der Handvoll Herbstlaub hinterher, das sich vom Wind über die Terrasse treiben ließ. Sie nahm die Hände von der Mappe auf ihren Knien und zog die Jacke zusammen. Eben noch sommerlich warm in der Frühlingssonne, zogen nun dunkle Wolken über das Haus und warfen flüchtige Schatten auf die Granitplatten.
»Sollen wir besser hineingehen?«, fragte Ruth gastfreundlich.
»Nicht meinetwegen. Die Aussicht ist zauberhaft.«
Das Weingut war umschlossen von terrassierten Hängen mit langen Reihen dicht an dicht stehender Rebstöcke, die die Landschaft gliederten und einen
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