Rheingrund
fernen Insel auf. Sie musste einen aktuellen Zusammenhang finden!
Vielleicht konnten die Ex-Kollegen weiterhelfen. Die Zusammenkunft war vorüber. Wolfert klang angespannt, befand sich in diesem Zustand zwischen Übermüdung und höchster Konzentration, den Norma während der Mitarbeit in einer Mordkommission selbst erlebt hatte. Sie wusste, wie sehr die Ermittlungsarbeit an die Substanz gehen konnte, vor allem, wenn die Ergebnisse ausblieben. Was in diesem Fall allerdings nicht zutraf. Oder doch?
»Hat Lambert widerrufen?«
Wolfert widersprach. »Nein, er bleibt bei seiner Aussage. Trotzdem kommen mir Zweifel.«
»Gibt es neue Hinweise?«
»Nein, nur mein Instinkt sagt mir, dass an dem Geständnis etwas faul ist.«
»Der Anwalt war bei mir. Er meint, Lambert sei durch die DDR-Haft traumatisiert.«
»Geh mir fort mit dem!«, entfuhr es Wolfert ungewohnt emotional. »Will der Herr Anwalt uns unterstellen, wir hätten Lambert unter Druck gesetzt? Hält der Mann uns für Anfänger?«
»Was meint Luigi?«
»Zu diesem Ehlers? Kannst du dir das nicht denken?«
»Dirk! Mir geht es um Lambert! Glaubt Luigi noch an das Geständnis?«
»Frag ihn doch selbst!«, knurrte er.
Norma lächelte überrascht. War das ein einsamer Ausrutscher in bestem Milano-Temperament, oder näherten sich die Kollegen wie ein altes Ehepaar immer mehr einander an?
»Was ist mit der Hütte?«
»Alles zu seiner Zeit, Norma! Da kommt Luigi. Willst du ihn sprechen?«
»Nicht nötig, Dirk. Bis dann!«
Sie hatte genug erfahren. Milanos Laune konnte nur schlimmer sein als Wolferts. Mit dem Vorsatz, sich nicht länger ablenken zu lassen, brachte sie den Bericht zu Ende und druckte anschließend die Rechnung aus. Inzwischen war es später Nachmittag. Der Hunger meldete sich und erinnerte Norma an die Verabredung mit Lutz. Sie packte die Unterlagen für Ruth in einen Umschlag und verließ das Büro. Oben in der Wohnung nahm sie sich einen Joghurt und schaute, während sie zum Nachtisch einen Apfel verspeiste, auf den Rhein hinaus. Zwei Frachtschiffe begegneten sich auf Höhe der Rettbergsaue und verdeckten für die Dauer des gemächlichen Vorbeigleitens die Campingwagen entlang des weißen Badestrands der Insel. Im Abendlicht schimmerte der Strom in einem grundlosen Blaugrau. Marika drängte sich in ihre Gedanken. Wenn die Tote im Rhein lag, was mochte nach so vielen Jahren von ihr übrig sein? Schaudernd verbat Norma sich jede weitere derartige Vorstellung und bückte sich nach dem schweren Topf. Während die Suppe auf dem Herd warm wurde, schmeckte Norma ab und würzte großzügig nach. Den Wein hatte sie rechtzeitig in den Kühlschrank gestellt. Sie mochte den Riesling am liebsten gut gekühlt.
Lutz kam pünktlich und brachte als Gastgeschenk einen aufwändigen Bildband über das historische Wiesbaden mit, das jüngste Kind des Verlags. Auf ihre Bitte entkorkte er eine Flasche Martinsthaler Wildsau Kabinett und füllte die Gläser. Sie mussten in der Küche essen. Der Couchtisch im Wohnzimmer war dafür ungeeignet, wie sie aus Erfahrung wusste. Zwei Stühle passten an den Küchentisch, der die Gedecke und den Suppentopf kaum fassen konnte. Die Lücke hatte Norma mit Kerzen gefüllt. In der Gesellschaft des einfachen Küchenmobiliars erschien ihr der wertvolle Silberleuchter auf anrührende Weise deplatziert. Nur die luxuriöse Espressomaschine neben dem Herd, eine Hinterlassenschaft Arthurs und selten in Gebrauch, erschien ihr nicht minder fehl am Platz.
Lutz musste sich unter die Dachschräge bücken, um auf seinen Stuhl zu gelangen. »Du hast es gemütlich hier, Norma. Und trotzdem frage ich mich, warum du in dieser Enge wohnen bleibst. Warum gehst du nicht zurück in die Taunusstraße?«
Als sie nicht antwortete, wurde er unsicher, wie sie seinem Blick anmerkte und der Art, das Sakko zu richten.
»Nimmst du mir die Einmischung übel, Norma?«
Sie lächelte beruhigend. »Nicht doch, Lutz. Die Wohnung mag eng sein, und die Fliesen im Bad sind zerlöchert wie Schweizer Käse. Für die Renovierung fehlt Eva das Geld.«
»Was hält dich hier?«
Sie hob das Glas. Der Wein schmeckte nach Erde und milder Säure, kräftig und sanft gleichermaßen, und erinnerte sie in seiner Vielschichtigkeit unwillkürlich an Ruth. »Ich möchte den Rhein sehen.«
29
Freitag, der 25. April
Angenehm müde vom Wein und der angeregten Unterhaltung, schlief sie so tief und fest wie seit Langem nicht. Es war spät geworden. Der Kater hatte sich huldvoll
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