Rheingrund
Ausgang. Leopold hatte sich auf dem Regal eingerichtet und fauchte verstimmt. Norma überließ den Kater seinen Launen und ging hinauf in die Küche. Beim Frühstück dachte sie über die Konsequenzen der Kündigung nach. Sie verspürte nicht die geringste Lust, sich so kurz vor dem Ziel ausbremsen zu lassen. Jedes Aufgeben hinterließ den Geschmack des Scheiterns.
Mit dem Becher Milchkaffee in der Hand schlug sie die Zeitung auf und las den Artikel ein zweites Mal. »Die Öffentlichkeit ist dank der raschen Aufklärung erleichtert«, hieß es am Schluss des Berichts, und dann: »Allerdings betont Rechtsanwalt Eiko Ehlers, das Geständnis seines Mandanten weise Ungereimtheiten auf.«
Ehlers, der Spezialist für hoffnungslose Fälle?
Das Telefon zeigte einen Anruf an. »Wie gehts dir?«, fragte Lutz.
Seine Stimme klang besonnen und wohltuend wie immer. Der Abend im Kurhaus lag fünf Tage zurück. Norma erschien die vergangene Zeit wie fünf Wochen, nach allem, was inzwischen geschehen war.
»Ruth hat den Auftrag zurückgezogen.«
»Wundert dich das? Von deinen Vorgängern hat sie sich ebenfalls nach kurzer Zeit getrennt.«
Norma seufzte. »Ich nehme es trotzdem persönlich.«
»Schaff dir ein dickeres Fell an, liebe Norma.«
»Es geht nicht nur um mich. Marika ist mir nahegekommen. Ich lasse sie ungern im Stich.« Sie wechselte das Thema und fragte nach Undine.
Lutz lachte leise. »Sie ist für ein paar Tage in die Schweiz gereist, zu einer Kunstauktion in Zürich. Solange wir nur telefonieren, wird unsere Liebe von Harmonie getragen.«
»Schön gesagt! Aber von Luft und Liebe kann niemand leben. Wie wäre es mit einem Gemüseeintopf? Dazu gibt es einen guten Tropfen aus Martinsthal. Heute Abend um 20 Uhr?«
Erfreut stimmte Lutz der Einladung zu.
Norma machte sich sofort an die Vorbereitungen, wusch Möhren, Sellerie, Lauch, Petersilienwurzeln und Kohlrabi und schnitt das Gemüse in feine Würfel. Anschließend putzte sie den Rosenkohl, ließ die Zutaten eine Weile dünsten und füllte Gemüsebrühe in den Topf. Bis das Gemüse weich gekocht war, trank sie den zweiten Milchkaffee und las die Zeitung.
Es wurde Zeit für die Büroarbeit. Sie wollte ihre Korrekturen der Wanderstrecken überarbeiten, damit Lutz die Texte am Abend mitnehmen konnte. Die Aufgabe war beinahe erledigt, als sich ein Besuch bemerkbar machte. Die Situation vom Dienstag schien sich zu wiederholen: Eiko Ehlers klopfte an die Fensterscheibe. Norma winkte ihn herein.
»Sie sind gut beschäftigt«, begrüßte sie ihn, »und haben sich außerdem Kai Kristian Lamberts angenommen.«
»Das wissen Sie? Also stimmt es, was man sich über Sie erzählt.«
»Was sagt man über mich?«, fragte sie mit skeptischem Unterton.
»Es heißt, Sie würden über enge Kontakte zur Wiesbadener Polizei verfügen. Speziell zu den Kommissaren Milano und Wolfert.«
»Um über Ihr Mandat informiert zu sein, musste ich die beiden Herren nicht bemühen. Dafür genügte ein Blick in den ›Kurier‹. Haben Sie heute noch keine Zeitung gelesen?«
»Leider nein. Der Punkt geht an Sie!« Er lächelte. »Vielleicht hätten Sie einen Kaffee für mich übrig? Dazu bin ich heute auch noch nicht gekommen.«
»Mit Milch?«
»Schwarz genügt«, erwiderte er eilig, als wollte er alle Umstände vermeiden.
Das Büro war für die wichtigen Dinge des Lebens ausgestattet. Norma füllte den Wasserkocher und erwärmte für sich selbst die Milch auf der Kochplatte im Regal, bevor sie das Kaffeepulver in den Glaszylinder schüttete. Derweil kraulte ihr Gast den Kater, der ihm um die Beine strich, und scheute nicht vor dem katzenhaarigen Besucherstuhl zurück.
Norma brachte die Becher zum Schreibtisch und setzte sich Ehlers gegenüber. »Ich sage es lieber gleich. Den Brief habe ich nicht angerührt.«
»Keine Sorge, deswegen bin ich nicht gekommen.« Er probierte den heißen Kaffee. »Ich möchte mit allen Leuten reden, die in Wiesbaden nähere Kontakte zu Lambert hatten. Jede Einzelheit kann mir bei der Verteidigung helfen.«
»Ich habe ihn nur zwei Mal getroffen.«
Er lächelte. »Ich baue auf Ihre Beobachtungsgabe.«
»Wie sind Sie an das Mandat gekommen?«
»Ein Zufall. Der Sohn hat mein Schild gelesen und kam hinauf in die Kanzlei. Beide haben ein sehr gutes Verhältnis, wie mir scheint. Die Mutter ist vor einigen Jahren an Krebs gestorben. Lenny ist verzweifelt. Er hält die Anklage für absurd.«
Norma fragte sich, ob der Anwalt wusste, dass der Junge nicht das
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