Rheingrund
der Lehrerin. Norma ließ sich Zeit mit dem Aufrollen der Matte und blieb, bis alle gegangen waren.
Ruth erwartete sie im Flur. »Als Anfängerin haben Sie sich gut geschlagen. Hüten Sie sich davor, Yoga als eine Art Gymnastik zu verstehen. Ebenso könnte man die Loreley für die Alpen halten. Die Asanas sind nur ein Weg zu erkennen, was in uns unveränderlich und unsterblich ist.«
Norma nickte respektvoll.
Ruth fuhr mit leiser Stimme fort: »Den anderen konnte ich es eben nicht sagen, sie bekommen in den nächsten Tagen Post. Ihnen gegenüber erkläre ich jetzt und hier: Ich habe mich entschieden, die Yogaschule zu schließen. Dieses war meine allerletzte Stunde.«
Sie beendete die Proklamation mit dem Falten der Hände, die sie vor der Brust zusammenführte, und einer angedeuteten Verbeugung.
»Darf ich fragen, was Sie dazu bewegt? Gerade jetzt?«
Ruth senkte die Arme. »Was meinen Sie mit: gerade jetzt?«
»Das liegt doch nahe.«
»Sie sprechen Martin an? Sein Tod hat nichts mit meinem Entschluss zu tun.«
»Sondern?«
Ruth lächelte. »Sie sind hartnäckig, das gefiel mir von Anfang an. Begnügen Sie sich bitte mit der Antwort, dass für einen alten Körper wie den meinen und die geplagte Seele irgendwann die Zeit gekommen ist, sich zur Ruhe zu setzen.«
Norma erkundigte sich nach der Enkeltochter, und die Nachfrage stimmte Ruth ein wenig milder. »Inga hat so sehr an Martin gehangen. Ich kann ihr in ihrem Kummer nicht helfen, wie sie sehr genau spürt. Deswegen hat sie sich heute freigenommen und ist zu einer Freundin nach Mainz gefahren.«
»Ich müsste Inga dringend sprechen. Können Sie mir bitte die Adresse geben?«
Sie kenne die Freundin nicht, erwiderte Ruth und bemerkte auf dem Weg zum Ausgang: »Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie so bald wiederzusehen.«
Norma wandte sich um. »Es gibt einen besonderen Grund für meinen Besuch. Zwar haben Sie mir den Auftrag entzogen. Trotzdem möchte ich Sie um einen Gefallen bitten.«
Ruth reagierte ungehalten. »Ich habe Ihnen gesagt, die Suche nach Marika ist für mich erledigt. Begreifen Sie das nicht?«
»Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer! All die Jahre haben Sie unter der Ungewissheit gelitten. Nun hat sich eine Spur aufgetan, und Sie machen einen Rückzieher? Ist Ihnen das Schicksal Ihrer Tochter plötzlich nicht mehr wichtig?«
Die Provokation zeigte Wirkung.
»Wie können Sie einer Mutter Gleichgültigkeit unterstellen! Was wollen Sie?«
»Die Gartenhütte untersuchen lassen! Zunächst ohne offiziellen Polizeiauftrag, verstehen Sie? Es wird keinerlei Aufsehen geben. Wenn Sie einverstanden sind, kommt am Montag ein Beamter und sieht sich erst einmal um. Es ist fraglich, ob sich über die lange Zeit überhaupt Spuren erhalten konnten.«
»In drei Tagen also?« Ruth strich sich durch das graue Haar, als müsste sie für die Entscheidung Zeit gewinnen, und willigte schließlich ein.
Norma bedankte sich und verließ das Haus. Nachdenklich stieg sie in den Wagen. Ruth hatte der Durchsuchung zugestimmt, ohne nach dem Anlass zu fragen. Dabei hatte sie bisher nie erwähnt, dass sie von Marikas Treffen im Gartenhaus wusste. Wo war ihre Offenheit geblieben? Ruths plötzliche Zurückhaltung ließ nur einen Schluss zu: Was neue Spuren betraf, schien die ehemalige Auftraggeberin der Privatdetektivin um einen Schritt voraus zu sein. Eine Vermutung, die unweigerlich die nächste Frage aufwarf: Was trieb Ruth zu dieser Geheimniskrämerei?
30
Unter der Mobilnummer lief die Computeransage. Sie versuchte es unterwegs noch zwei Mal, bevor sie eine Nachricht mit der Bitte um Rückruf hinterließ. Sie wollte sich so bald wie möglich mit dem Mädchen treffen. Inga sollte über das Ergebnis des zweiten Vaterschaftstests nicht länger im Unklaren bleiben. Gemächlich folgte sie der Bundesstraße, auf der es stockend voranging, und ihre Blicke streiften den Rhein und das sich über den Strom spannende Blau des Himmels, ohne den Anblick richtig wahrzunehmen. Sie fühlte sich kribblig und überwach, als habe die Yogastunde ihre Sinne geschärft. Eine Wirkung, auf die sie nicht vorbereitet war.
Das Telefonsignal ertönte, als sie Schierstein erreichte und an dem herrschaftlichen Gebäude der Sektkellerei entlangrollte. Es war nicht – wie erhofft – Inga, sondern der Anwalt Ehlers, der um ein Gespräch bat.
»Können wir uns in Ihrem Büro treffen, Frau Tann? In einer halben Stunde?«
Sie stimmte aus Höflichkeit zu und ließ sich im Verkehrsstrom weiter
Weitere Kostenlose Bücher