Rheinsteigmord - Kriminalroman
dass Fred eine Auszeit brauchte? Umso besser.
Knirschende Schritte näherten sich vom Weg her. Eine junge Frau trat in Freds Blickfeld. Dunkles, halblanges Haar. Ein orangefarbenes Sweatshirt. Jeans. Umhängetasche. Sie sah sich um, wahrscheinlich ebenso fasziniert von der Aussicht, wie er es bei seinem Aufstieg gewesen war. Dann sah sie ihn.
Sie lächelte, kam auf ihn zu und fragte: »Warten Sie auf mich?«
»Leider nein«, sagte Fred. »Ich habe hier sonst aber auch niemanden gesehen.«
Sie hob die Schultern, wie um sich für das kleine Missverständnis zu entschuldigen, holte ein Smartphone heraus, ohne weiter auf Fred zu achten, und tippte darauf herum. Dabei warf sie mit einer charakteristischen Bewegung immer wieder ihr Haar zurück.
Sieh an, dachte Fred. Hier oben wird sich also auch verabredet. Was das wohl für eine Art Verabredung war? Wenn sie denjenigen vielleicht gar nicht kannte? Könnte sie ein Blind Date haben?
Sie ging über den knirschenden Schotter in Richtung Ehrenmal und verschwand aus seinem Blickfeld.
Als er nach einer Weile aufstand und sich umsah, war sie nicht mehr da. Entweder war sie hinter dem Ehrenmal über die Wiese und wieder hinunter zum Ort gegangen. Oder sie war dem Rheinsteig gefolgt. Vielleicht saß sie oben auf der Ley.
Fred flog ein Gefühl von Einsamkeit an. Die Begegnung mit der Frau hatte eine Erinnerung an Nina ausgelöst. Nina, mit der er elf Jahre verheiratet gewesen war. Und an Sarah, ihre gemeinsame Tochter, die bei ihr wohnte. Sarah wurde bald zwanzig. Immerhin sah er sie hin und wieder.
Wieder trat er an das Geländer. Unten schlichen die langen Schiffe dahin. Zwei bewegten sich langsam aufeinander zu, und es sah so aus, als würden sie in wenigen Minuten kollidieren. Doch dann schoben sie sich aneinander vorbei.
Fred beschloss, Feierabend zu machen. Er überlegte, wie es morgen weitergehen sollte. Die Koblenzer Nummer gab es noch, und vielleicht konnte er ja auch noch mal mit diesem Haustein reden. Oder die Leute in Rheinbrohl befragen, bis er jemanden fand, der den Professor gesehen hatte. Und ihm bestätigte, dass er doch in irgendeine Bahn oder einen Bus gestiegen war. Dann ließe sich seine Spur weiterverfolgen.
Die Frauenstimme auf dem Anrufbeantworter des Koblenzer Anschlusses. Diese Frau hatte den Professor zu Hause angerufen. Warum?
Fred kam als Erstes das Übliche in den Sinn: eine Freundin. Oder eine Prostituierte. Nein, eine Freundin – das konnte sein. Nutten riefen nicht zurück.
Er holte Friesdorfs Foto heraus und blickte eine Weile in das ernste, aber langweilige Gesicht des Professors. Schwer, dahinterzublicken.
Ein Wind kam auf und wurde stärker. Er musste zurück ins Tal. Zu Chandler. Die Aussicht, in seinem Schriftsteller-Bulli in freier Wildbahn den Abend zu verbringen, trieb ihn an. Zusammen mit seiner Schreibmaschine, in der noch dieser eine Satz steckte und auf weitere wartete. Der Satz mit der Pistole, die sich durch den Türspalt schob …
Während er zwischen Gärten hindurch hinunter in den Ort marschierte, wurde Fred klar, dass er, was sein Schreiben betraf, auf dem ganz falschen Dampfer war. Er beschäftigte sich zu sehr damit, irgendwelche vermeintlich spannenden Szenen aneinanderzubauen, in denen sich geheimnisvolle Türen öffneten oder nächtliche Verfolgungen stattfanden. Es war doch viel reizvoller, Krimis zu erfinden, die an wahren Orten spielten. Zum Beispiel da oben am Ehrenmal. In der Einsamkeit einer windumtosten Rheinhöhe. Wo dann auf einmal eine Frau in Orange auftauchte.
»Die Frau in Orange« …
Kein schlechter Titel.
7
Chandler blickte ihm von der Stelle gegenüber dem Café entgegen. Unterwegs war Fred am Edeka vorbeigekommen und hatte eingekauft. Zwei große Tüten waren voll mit geschnittenem Brot, Margarine, etwas Aufschnitt, Bananen, Äpfeln, zwei Tetrapaks Saft, einem Sechserpack Wasser und Gläsern mit Marmelade und Honig. Außerdem hatte er sich eine Flasche Chivas Regal geleistet. Unter seinem Arm klemmte eine Packung Klopapier.
Die Schreibmaschine stand auf ihrem Platz bereit, und am liebsten hätte er sich sofort hingesetzt und losgeschrieben. Aber diese Durchgangsstraße war nicht der passende Ort dafür. Das dachte Fred zumindest, obwohl ihm eine innere Stimme sagte, dass ein echter Schriftsteller überall den geeigneten Ort zum Schreiben fand. Das Suchen nach dem richtigen Platz, dem richtigen Stift, dem richtigen Papier, der richtigen Zeit oder sonst was war nur eine Methode des
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