Rhönblut: Kriminalroman (German Edition)
ihm eine Flasche Bier und ein Sammelsurium an Tabletten. Er atmete flach, sein Herz schlug normal, nur sein Geist war entrückt. Kohler hatte ihm vor vielen Jahren einmal gesagt, dass er ihn um diese Gabe beneide. Alles abstellen und sich in das Opfer oder den möglichen Täter versetzen zu können. Seeberg selbst empfand es vielmehr als Fluch. Denn er konnte die Schmerzen und Ängste der Opfer beinahe tatsächlich nachfühlen. Ohne dass er es steuern oder beeinflussen konnte, nahmen diese Situationen Besitz von ihm. Wie ein böser Geist strömten sie in ihn und breiteten sich dort aus. Auch jetzt war es wieder so. Bilder zeigten sich ihm mit einer rasenden Geschwindigkeit.
Pogatetz, wie er in seiner blutverschmierten Uniform den vielen Verletzten des Tsunami versucht zu helfen.
Karstensen, der mit Mundschutz um Leichenberge herumläuft und seiner Aufgabe nachgeht, Menschen zu identifizieren.
Michelle Karstensen im Liebesspiel mit der hübschen Nancy.
Und Cunningham. Er ist auch da. Er sitzt allerdings nur am Rande des Szenarios. Er lächelt. Er lächelt und wartet. Aber auf was?
Die Gedanken und Bilder überschlugen sich, und der Kommissar hielt sich seine Hände an die Schläfen, um die Schmerzen auszuhalten. Er versuchte, alles zusammenzubringen, und zermarterte sich den Kopf. Es war zum Verrücktwerden. Irgendjemand musste Informationen besitzen, die ihn weiterbringen würden. Die Akten der Bundeswehr würde er nicht einsehen dürfen, ebenso wenig wie die des Bundeskriminalamts. Falls diese beiden Organisationen etwas Brisantes über ihre Angehörigen und Mitarbeiter wussten, würden sie einen Teufel tun, es herauszugeben.
»Verdammt«, fluchte der Kommissar und griff zur Seite. Seine Hände fanden, wonach er suchte. Als Erstes trank er einen Schluck Bier, dann nahm er seine Tabletten ein und spülte sie herunter. Wenigspäter sackte sein Kopf auf die Brust, und er schlief auf dem Stuhl ein.
Der Nacken tat ihm weh, als er erwachte. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sich beeilen musste. Also streifte er sich lediglich seinen Mantel über und verließ das Haus. Vor der Tür stellte er die Krempe seines Mantels auf und ging die wenigen Schritte zu seinem Wagen. Zum Glück sprang der Motor schon nach dem zweiten Versuch an, und er fuhr los.
An der ersten Biegung war es zunächst nur ein Gefühl, an der dritten Kreuzung war sich der Kommissar dann aber ganz sicher. Er schaute erneut in den Rückspiegel. Ja, er wurde verfolgt. Doch in der Dunkelheit konnte er weder das Fabrikat noch die Farbe des Wagens erkennen. Doch die Auffälligkeit, dass der linke Scheinwerfer des Autos defekt war und schwach leuchtete, bestätigte seine Vermutung. An der nächsten Querstraße bog er ab, lenkte den Wagen blitzschnell in eine unbefahrene Straße und stellte den Wagen auf einem Parkstreifen ab. Er schaltete sein Licht aus und wartete. Zunächst geschah nichts, dann bog das Fahrzeug mit dem defekten Scheinwerfer in die Straße ein und blieb nur wenige Meter vor ihm entfernt stehen.
Seeberg stieg aus und schlich sich im Schutze der Dunkelheit an den Wagen heran. Als er auf der Höhedes Fahrers angekommen war, riss er die Tür auf, packte den Mann am Kragen und zerrte ihn heraus. Der Mann schrie schmerzhaft auf, als er unsanft gegen die Karosserie gedrückt wurde. Im selben Moment erkannte Seeberg ihn.
»Das hätte ich mir ja denken können. Eckstein, Sie Spinner.«
Der Reporter wand sich wie ein Junge, der auf dem Schulhof in den Schwitzkasten genommen wurde.
»Lassen Sie mich los! Ich habe Ihnen doch gar nichts getan.«
Seeberg ließ von ihm ab und schüttelte genervt den Kopf. »Haben Sie nichts Besseres zu tun, als mir wie ein notgeiler Hund hinterherzuschleichen?«
Eckstein griff in seine Tasche und zündete sich eine Zigarette an. »Sie geben mir ja keine Auskunft über den Stand der Ermittlungen. Irgendwie muss ich aber an meine Story kommen.«
»Eckstein, jeder kleine Taschendieb würde Sie bemerken. Reparieren Sie mal ihr Vorderlicht! Damit erkennt man Sie auf hundert Meter.«
Eckstein schaute kurz zum defekten Licht, dann zündete er sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. »Ist schon ewig kaputt. Es gibt andere Dinge, die mich mehr interessieren.«
»Mich auch. Zum Beispiel die Tatsache, wie lange Sie mir denn schon nachstellen?«
Eine große Rauchsäule stieg aus dem Mund des Reporters. »Immer mal wieder. Ich dachte, ich bekomme so vielleicht etwas raus. All meine Quellen helfen mir in
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