Rhosmari - Retterin der Feen
sie in der Dunkelheit nichts sehen konnte. Wenn der Tunnel auch nur eine kleine Biegung machte, würde sie gegen die Wand prallen und das Bewusstsein verlieren – oder Schlimmeres.
Doch kein Zauber folgte ihr und sie hörte Lady Celyn auch nicht mehr rufen. Als sie zuletzt langsamer wurde und den Weg, den sie gekommen war, zurückblickte, war dort alles dunkel. Ihre Mutter hatte die Welt der Menschen nicht betreten und war verschwunden.
Rhosmari ließ sich auf den Boden des Tunnels sinken und nahm wieder ihre normale Größe an. Ihre Lungen brannten, als hätte sie Rauch eingeatmet, und ihre Augen tränten. Sie wischte sich das Gesicht am Ärmel ab, zündete ein neues Licht an und ging weiter.
Jetzt, da sie keine andere Wahl hatte, als weiterzugehen, kam ihr Gruffydds Weg nicht mehr so schrecklich vor wie am Anfang. Der Tunnel war hoch und luftig und die Wände standen so weit auseinander, dass sogar ein Albatros mit ausgebreiteten Flügeln hätte hindurchfliegen können, ohne sie zu berühren. Unter ihren Füßen spürte sie den festen Felsen und die Decke wirkte keineswegs einsturzgefährdet. Trotzdem ging sie unwillkürlich schneller, sobald sie ein Wasserrinnsal glänzen sah und die Luft sich besonders klamm anfühlte.
Wie viele Stunden waren seit ihrem Aufbruch von den Grünen Inseln vergangen? Ohne die Hilfe von Sonne, Mond und Gezeiten konnte Rhosmari es nicht sagen. Sie wusste nur, dass sie noch nie in ihrem ganzen Leben eine so lange Strecke marschiert war. Schon zwei Mal hatte sie Pause gemacht und von dem Proviant gegessen, den Lady Arianllys ihr mitgegeben hatte, denn sie hatte vom vielen Fliegen und Gehen einen Mordshunger bekommen. Jetzt fühlte sich ihr Bauch schon wieder leer an.
Sie glaubte schon, ihre Mutter hätte sie in einem Illusionszauber gefangen und sie müsste Gruffydds Weg ewig entlangwandern, da stieg der Boden plötzlich an. Nur wenige Schritte vor ihr begann eine Treppe mit breiten Stufen, die nach oben in der Dunkelheit verschwand. Sie hatte endlich das Festland erreicht.
Sie blieb stehen und betrachtete die Stufen. Der Tunnel war für Menschen gebaut worden, nicht die kleineren Kinder des Rhys. Wahrscheinlich kam sie mit der Treppe besser zurecht, wenn sie die Größe eines Menschen annahm. Wie groß war Timothy gewesen, als er sie besucht hatte? Vielleicht wenn sie eine etwas kleinere Größe wählte …
Ärgerlich schlug sie sich mit der Faust an die Stirn. Nicht schon wieder Timothy. Warum hatte Lady Arianllys sie an ihn erinnert? Sie hatte nach Kräften versucht, ihn zu vergessen, zumal nachdem sie begriffen hatte, dass er und Linde an Garans Flucht schuld waren. Doch als er damals erzählt hatte, wie eine Dienerin der Kaiserin versucht hatte, ihm seine Musikalität wegzunehmen, hatte Rhosmari vibriert wie eine Bogensehne, an der man zupft.
Jetzt aber genug, wies sie sich energisch zurecht. Sie sammelte ihre Gedanken, zählte an der Tunnelwand einige Steine bis zu einer Höhe ab, die ihr vernünftig erschien, und wuchs langsam, bis sie die Höhe erreicht hatte.
Die Treppe sah auf einmal viel harmloser aus. Erleichtert stieg Rhosmari sie hinauf.
Die Stufen führten immer weiter und die Wände rückten mit jedem Schritt wieder näher – was Rhosmari diesmal aber nicht so viel ausmachte, denn sie wusste ja, dass sie bald frei sein würde. Ein Rumpeln drang durch den stillen Tunnel und schwoll zu einem Donnern an, doch Rhosmari erkannte, dass es sich um die gegen die Felsen krachenden Wellen handelte, und freute sich darüber. Die Treppe machte eine Kurve und endete an einer steinernen Tür, die genauso aussah wie die Tür, die Lady Arianllys viele Stunden zuvor für sie geöffnet hatte. Im Schein ihres Leuchtzaubers sah Rhosmari einen von einer Wellenlinie durchzogenen Kreis. Sie berührte ihn und die Tür ging knirschend auf.
Nie hatte ihr die Meerluft so süß geschmeckt, obwohl die Kälte ihr den Atem verschlug. Den Mond sah sie nicht, aber mit ihrem Nachtblick sah sie einen langen Sandstrand, schaumgekrönte Wellen und in der Ferne die schattenhaften Umrisse einer Insel. Sie trat aus dem Tunnel, und als sie sich umdrehte, war die Tür verschwunden. Stattdessen sah sie nur noch die steile, mit Gras- und Ginsterbüscheln bewachsene Felsküste.
Ihr Herz klopfte ängstlich. Wenn sie die Tür nun nicht wiederfand? Aber bei näherem Hinsehen entdeckte sie das mit feinen Linien in den Stein eingeritzte Kreissymbol. Also konnte sie zurückkehren und Garan und seine Freunde
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