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Rhosmari - Retterin der Feen

Rhosmari - Retterin der Feen

Titel: Rhosmari - Retterin der Feen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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also«, sagte die Stimme in der ersten Reihe, »das war viel besser.« Mit einem Temperament, das nicht zu ihrer trägen Stimme passen wollte, sprang eine untersetzte Frau mit stahlgrauen Haaren auf, ergriff die Hand des Mädchens und schüttelte sie. »Gut gemacht, Lucy. Komm morgen wieder. Der Nächste!«
    »Ich muss dir offenbar nicht erklären, wie Theater funktioniert«, murmelte Martin, während ein weiterer Bewerber, diesmal ein Mann, auf die Bühne stieg. »Aber wer hätte gedacht, dass eine ehrliche Fee wie du so schnell mit einer Kunst zurechtkommt, die auf Täuschung und Lüge beruht?«
    »Lüge?« Rhosmari sah ihn verwirrt an. »Aber ich dachte, die Frau würde eine Rede halten … für etwas eintreten …«
    »Das tut sie ja auch. Aber zugleich hat sie die Rolle einer Frau gespielt, die sich als Mann verkleidet und vorgibt, Anwalt eines Gerichts zu sein, das gar nicht existiert.« Martin lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Die Rede stammt aus William Shakespeares Stück Der Kaufmann von Venedig .«
    Aus einem Theaterstück! Rhosmari wusste, dass Menschen sich manchmal verkleideten und zur Unterhaltung eines Publikums Geschichten aufführten, aber sie hatte es noch nie erlebt. »Das ist doch keine Lüge«, protestierte sie. »Es wird ja niemand ernsthaft getäuscht.«
    »Aber die Zuschauer wollen sich täuschen lassen«, erwiderte Martin. »Und je mehr ein Schauspieler sie glauben machen kann, dass die Gefühle, die er spielt, echt sind, desto mehr lieben sie ihn. Sieh dir das an.« Er wies mit einem Nicken zur Bühne, auf der in diesem Augenblick mit geschmeidigen Bewegungen ein schwarzäugiger junger Mann vortrat.
    »Ich bin ein Jude«, deklamierte er. »Hat nicht ein Jude Augen? Hat nicht ein Jude Hände, Gliedmaßen, Werkzeuge, Sinne, Neigungen, Leidenschaften …?«
    Als er geendet hatte, hatte Rhosmari Mühe, die Tränen zurückzuhalten. Der Ernst, mit dem er gesprochen hatte, und seine abwechselnd stolze und verzweifelte Miene hatten seine Sehnsucht nach Gerechtigkeit so machtvoll ausgedrückt, dass ihr ganz weh ums Herz wurde. Dass er sich an denen rächen wollte, die ihm unrecht getan hatten, verursachte ihr zwar Unbehagen, aber zugleich konnte sie es ihm nachfühlen. Sie warf Martin einen Blick von der Seite zu. An der Art, wie er die Augen zusammenkniff und die Hände auf die Knie drückte, merkte sie, dass die Rede auch ihn ergriffen hatte und er es nur nicht zeigen wollte.
    Danach herrschte angespanntes, atemloses Schweigen. Und dann …
    »Ich wusste es!«, brüllte die Frau in der ersten Reihe, drehte sich um und zeigte mit dem Finger auf Martin. »Das bist nämlich du! Ich hätte gleich merken müssen, dass du wieder da bist, als diese Trantüten plötzlich anfingen zu spielen wie richtige Schauspieler. Aber was nützt einem eine Muse, wenn sie nicht bleiben kann?« Sie kam den Mittelgang herauf, packte Martin und küsste ihn schmatzend auf beide Wangen.
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst«, erwiderte Martin würdevoll und rieb sich das mit Lippenstift verschmierte Gesicht.
    »Nein, natürlich nicht«, sagte die Frau an Rhosmari gewandt. »Er kommt auch nur deshalb in das kleinste Theater von Cardiff, weil wir billig sind. Als ob ich es nicht merken würde, wenn ein Tylwyth Teg vor mir steht.« Und im Anschluss an diese verblüffende Erklärung brüllte sie über die Schulter: »Steven, du kommst morgen wieder. Um sieben.«
    Der junge Mann lächelte strahlend. Er schlug die Hacken zusammen und verbeugte sich, dann sprang er von der Bühne und verschwand durch eine Tür.
    »Lyn hat diese wunderliche Vorstellung von mir als einer Art feenhaftem Wohltäter«, sagte Martin so unbefangen, dass Rhosmari ihn überrascht ansah. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie im Alter noch senil wird, aber bei diesen Theaterleuten weiß man nie – au!« Er hielt sich den Arm, in den die Frau ihn gekniffen hatte. »Vorsicht. Wenn du mich ärgerst, belege ich den Verkauf an der Theaterkasse mit einem Fluch.«
    »Der könnte sowieso nicht viel schlechter sein«, erwiderte Lyn. »Frag Toby, der rauft sich schon seit Wochen die Haare. Warum, glaubst du, besetzen wir Shakespeare mit pickelgesichtigen Teenagern und dem Cousin zweiten Grades der Putzfrau? Wir können uns niemand Besseres leisten.« Sie seufzte tief. »Aber einige sind durchaus vielversprechend und die letzten beiden waren wirklich begabt. Wenigstens haben wir diese Saison genug Schauspieler zum Arbeiten.«

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