Rhosmari - Retterin der Feen
und es wurde spürbar kälter. Rhosmari war schon ganz steif gefroren, als sie endlich vor einer schmalen Tür anhielten, an der ein Schild mit der Aufschrift THEATER DICHTERKLAUSE hing. Neben der Tür befand sich eine Klingel. Martin drückte sie und wartete.
Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein Kopf mit einem wirren Haarschopf erschien. »Pst!«, zischte eine heisere Stimme. »Sie haben schon angefangen. Wenn ihr zum Vorsprechen kommt, müsst ihr …« Der Sprecher richtete sich auf und sah sie überrascht an. »Martin, altes Haus! Ich dachte schon, wir würden dich nie wiedersehen! Und wer ist das? Deine Freundin?«
»Leider nein«, erwiderte Martin. »Wir haben uns im Zug kennengelernt. Schön, dich zu sehen, Toby. Können wir reinkommen und ein wenig zusehen? Ich dachte mir« – er sprach tiefer und klang spöttisch und affektiert –, »Rhosmari hat vielleicht Lust auf ein einzigartiges Kulturevent.«
»Das könnt ihr hier haben, gewiss«, seufzte Toby und fuhr sich mit den Händen durch die Haare, bis sie kreuz und quer durcheinanderstanden. »Ich habe noch nie so erbärmliche Amateure erlebt, und Lyn nimmt sie nach Strich und Faden auseinander. Aber wenn ihr euch diese Tortur zumuten wollt, will ich euch nicht daran hindern. Passt auf die Leiter auf.« Damit verschwand er nach drinnen.
Rhosmari starrte ihm nach. Ihre Müdigkeit hatte sie über der Entdeckung, dass Martins Freunde Menschen waren, vergessen. Allerdings blieb ihr keine Zeit zum Nachdenken, denn Martin war bereits durch die Tür getreten und sie musste ihm folgen.
Sie gelangten in einen engen Flur. Rechts sah man in ein unter einer Flut von Papieren versinkendes Büro, links führte eine Treppe nach oben. An der Wand stand eine ramponierte Trittleiter, unter der eine gestreifte Katze schlief. Martin ging an der Katze vorbei, ohne sie eines Blickes zu würdigen, doch Rhosmari kniete sich hin, um sie genauer zu betrachten. Sie hatte noch nie eine gesehen, denn auf den Grünen Inseln gab es keine Katzen. Ob sie zahm war und sich streicheln ließ?
»Komm«, sagte Martin ungeduldig über die Schulter und sie stand widerstrebend auf. Durch einen mit einem Vorhang verhängten Durchgang betraten sie einen tiefen, fensterlosen Raum. Er war mit Stuhlreihen gefüllt, die sich nach vorn zu einer hell erleuchteten Bühne hin absenkten. Martin nickte ihrem Führer zu und schob sich auf einen Stuhl, Rhosmari setzte sich neben ihn.
»Wo sind wir hier?«, flüsterte sie, doch Martin zeigte nur auf die Bühne, wo eine Frau unsicher ein Buch an die Brust gedrückt hielt. Ihr Blick war auf jemanden in der ersten Reihe gerichtet, ihr Gesicht voller nervöser Hoffnung. »Wie war das?«, fragte sie.
»Ziemlich schrecklich«, sagte eine weibliche Stimme kurz angebunden. »Diesmal nicht, meine Liebe.«
Niedergeschlagen schlurfte die Frau von der Bühne. »Die Nächste«, sagte die Stimme gelangweilt und eine junge Frau mit krausen braunen Haaren, die hinten zu einem Knoten zusammengefasst waren, stieg auf die Bühne. Sie lächelte unsicher, räusperte sich und begann.
»Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang. Sie träufelt wie des Himmels milder Regen zur Erde unter ihr; zwiefach gesegnet: Sie segnet den, der gibt, und den, der nimmt …«
Im Unterschied zu ihrer Vorgängerin hielt die Frau kein Buch in den Händen und trug den Text offenbar auswendig vor. Leider war sie so ausschließlich damit beschäftigt, die Worte richtig aufzusagen, dass der Ausdruck darüber zu kurz kam. Rhosmari empfand ganz unerwartet Mitleid mit ihr. Sie beugte sich auf ihrem Platz vor und wünschte sich, die Frau möge sich entspannen und keine Angst haben.
Die Wirkung war verblüffend. Augenblicklich straffte sich die Frau und sprach mit mehr Zuversicht. Sie legte eine solche Leidenschaft in die Worte, dass sie klangen, als seien es ihre eigenen. Ihre Augen blitzten und sie beschwor ihre unsichtbare Zuhörerin mit beredten Gesten, ihre Meinung anzuhören, sich zu prüfen und das Mitleid über den Buchstaben des Gesetzes zu stellen.
»Dies hab ich gesagt, um deine Forderung des Rechts zu mildern; wenn du darauf bestehst, so muss Venedigs gestrenger Hof durchaus dem Kaufmann dort zum Nachteil einen Spruch tun.«
Sie schloss mit einer kleinen Verbeugung und trat abwartend zurück. Im grellen Licht waren die Sommersprossen auf ihrer Haut und ihre geröteten Wangen deutlich zu sehen. Ihr Atem ging rasch. Rhosmari spürte ihre Aufregung, als würde sie selbst geprüft.
»Na
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