Rhosmari - Retterin der Feen
sollte sie noch mehr wie eine Fee aussehen? Zwar stimmte es, dass ihre Vorfahren aus einem fernen Land nach Wales gekommen waren und sie deshalb zu den rund fünfzig Feen der Grünen Inseln gehörte, die nicht die helle Gesichts- und Haarfarbe der anderen Kinder des Rhys besaßen. Aber warum sollte das wichtig sein? Sie konnte deshalb nicht weniger gut zaubern und stand nicht weniger treu zu ihrer Heimat. Sie verstand nicht, wie jemand sie mit Martin vergleichen und deshalb für eine weniger echte Fee halten konnte.
»Jedenfalls habe ich außer Lyn noch weitere Menschen kennengelernt, seit ich das Theater entdeckt habe«, fuhr Martin fort. »Die meisten leben in London. Dort gibt es viele Hundert Schauspieltruppen und es entsteht jede Minute ein neues Stück. Immer wenn die Kaiserin mich reisen ließ, nutzte ich die Gelegenheit, um mich weiterzubilden.« Ein Lächeln spielte um seine Lippen. »Und ich muss zugeben, dass ich von allen Theatern, die ich kenne, das kleine hier am liebsten mag.«
Rhosmari starrte auf die Matratze hinunter, die inzwischen ordentlich bezogen war. »Was ich vorhin getan habe, als die junge Frau ihre Rede hielt … ich wusste bis dahin gar nicht, dass es möglich ist. Ich weiß, dass wir Feen die schöpferische Kraft der Menschen allein durch unsere Nähe anregen, aber ich konnte den Unterschied regelrecht spüren. Und jetzt frage ich mich, ob ich ihr mehr geschadet als genützt habe.«
»Du wolltest ihr helfen«, erklärte Martin, »und das ist dir auch gelungen. Aber die Fähigkeit, die Rede Portias vorzutragen, kam von ihr selbst, nicht von dir. Du hast ihr nur die Angst genommen und ihr ermöglicht zu zeigen, was sie kann. Ist es nicht ein tolles Gefühl zu erleben, wie man Menschen beeinflussen kann?« Er gähnte, streckte die Arme über den Kopf und krümmte sich so weit nach hinten, dass sie seine Hüftknochen sah. »Aber jetzt gehe ich schlafen. Gute Nacht.«
Rhosmari hielt den Atem an. Damit meinte er doch wohl nicht … Natürlich hatte er das Bett gemacht, aber er konnte doch nicht annehmen … Und sie würde gewiss nicht im Traum daran denken … Sie musste ihm sagen …
Doch noch bevor sie die richtigen Worte gefunden hatte, drehte Martin sich um und ging zur Tür. Mit einem letzten spöttischen Blick über die Schulter, der ihr zu verstehen gab, dass er genau wusste, was sie dachte, verwandelte er sich in einen kleinen schwarz-weißen Vogel und flog weg.
FÜNF
»Du musst unbedingt wiederkommen, wenn du nächstes Mal in Cardiff bist«, sagte Lyn nach dem Frühstück am folgenden Morgen. Sie sah Martin vielsagend an, während sie die Haustür aufschloss. »Im Juni spielen wie den Kaufmann und im August Viel Lärm um nichts und du musst dir beides ansehen.«
»Aber du brauchst mich nicht, Lyn«, sagte Martin. »Du hast zwei sehr begabte junge Schauspieler und die anderen machst du mit Drohungen und Gewalt auch noch zu Genies. Meinst du nicht auch, dass in dir Feenblut fließt?«
»Mit meinem runzligen Gesicht? Unwahrscheinlich.« Lyn trat in den fahlgrauen Morgen hinaus. Am Himmel ballten sich Wolken und es roch nach Staub und Regen. »Ihr kommt also zurecht? Ich habe so ein Gefühl, als hättet ihr Probleme.« Ihr Blick wanderte zu Rhosmari. »Bist du vielleicht der Anlass?«
»Rhosmari ist viel zu wohlerzogen, um Probleme zu bereiten«, erwiderte Martin. »Keine Sorge, wir kommen schon zurecht.« Er legte grüßend die Finger an die Stirn. »Frieden und gutes Gelingen für dich, Lyn. Du wirst nicht bereuen, dass du uns aufgenommen hast.«
Lyn lächelte ein wenig angestrengt. »Ich nehme dich beim Wort.« Sie ließ den Blick ein letztes Mal auf Rhosmari ruhen, als wisse sie immer noch nicht, was sie von ihr halten sollte. Dann schüttelte sie den Kopf, verabschiedete die beiden mit einer Handbewegung und kehrte nach drinnen zurück.
Bei Tag machte Cardiff einen freundlicheren Eindruck auf Rhosmari als am Abend zuvor. Zwar fühlte es sich immer noch seltsam an, nur von Stein und Stahl umgeben zu sein, und die Häuser waren so hoch, dass ihr vom Hinaufschauen schwindlig wurde. Aber hier und da sah sie Bäume mit dicken Knospen und Wiesen, auf denen gelbe und violette Krokusse blühten. Und durch die Abgase der Autos hindurch nahm sie angenehmere Gerüche wahr wie den Duft frisch gebackenen Brotes aus einer Bäckerei, würziges Kaffeearoma oder das blumige Parfüm einer Gruppe von jungen Frauen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte Martin im Gehen. »Ich ja. Du wärst
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