Rhosmari - Retterin der Feen
Rhosmari nicht so recht daran glauben. Trotzdem schlug ihr Herz unwillkürlich ein wenig schneller.
Martin fluchte leise. »Ich bekomme diesen Knopf nicht zu.« Er hielt ihr die offene Manschette des rechten Ärmels hin. »Wärst du so nett?«
Sie fuhren drei Stunden mit dem Zug und dann noch eine mit dem Bus. Das letzte Stück mussten sie zu Fuß gehen. Ein gewundener Pfad führte zum Park von Waverley Hall. Doch als Rhosmari das Haus sah, war ihre Müdigkeit wie weggeblasen. Es war ein imposantes Anwesen, bestimmt so groß wie der Saal des Gerichts, und sah mit seinen rotgoldenen Ziegeln gemütlich und einladend aus, auch für eine Fee, die zwischen weißen Häusern und mit dem Rauschen des Meeres im Ohr aufgewachsen war.
Als sie freilich die Einfahrt hinaufgingen, stellte Rhosmari fest, dass der geometrisch angelegte Garten nicht so gut gepflegt war, wie es sich gehört hätte. Es war erst März und sie wusste, dass sie nicht viele Blumen erwarten durfte, aber der Garten wirkte trotzdem verwildert. Aus dem Kies wuchs Unkraut und auf den Wegen lagen abgebrochene Zweige und verwelkte Blätter.
»Halt«, sagte Martin. »Riechst du etwas?«
Rhosmari atmete die frische Landluft tief ein – und da war er, der prickelnde Geruch nach Kräutern, der auf die Anwesenheit von Feen hinwies. »Ja«, sagte sie und begann zu lächeln.
»Ich dachte es mir«, sagte Martin. »Also im Wäldchen.« Er schickte sich an, den Rasen zu überqueren, und Rhosmari eilte ihm nach, nachdem sie sich durch einen kurzen Blick vergewissert hatte, dass niemand sie beobachtete.
Über dem Park lag eine seltsame Ruhe. Sie hatte erwartet, mindestens ein oder zwei Menschen zu begegnen, denn ein Haus und Garten dieser Größe erforderte bestimmt viel Pflege. Doch als sie Martin darauf ansprach, zuckte er nur die Schultern.
»Wohlhabende Menschen verreisen oft über den Winter«, sagte er. »Bestimmt kommen die Besitzer in ein, zwei Wochen wieder.«
Rhosmari folgte ihm auf die Rückseite des Hauses. Ein kleiner Hund kroch aus den Büschen. Er war untersetzt und hatte ein sandfarbenes Fell und ein runzliges Gesicht. Rhosmari betrachtete ihn genauer und er erwiderte ihren Blick mit ängstlichen braunen Augen.
»Ist ja gut«, sagte sie und der Hund watschelte auf sie zu und leckte ihr die Finger. Er war trotz seines stämmigen Körperbaus schrecklich dünn. Seine Rippen standen auf beiden Seiten hervor und sein Bauch war eingefallen. Rhosmari hob das Metallplättchen an, das an seinem Halsband hing. Darauf war ein Name eingraviert: ISADORA.
»Martin?«, rief sie, aber der war bereits um die Ecke verschwunden. Sie tätschelte den Hund entschuldigend und eilte Martin nach.
»Wo warst du?«, fragte er.
Rhosmari erzählte ihm von dem Hund, aber er schien nicht überrascht. »Hunde laufen ihren Besitzern die ganze Zeit davon«, meinte er. »Wahrscheinlich ist vor ein paar Tagen die Leine gerissen und er ist weggerannt, und jetzt treibt ihn der Hunger nach Hause.«
Rhosmari konnte sich zwar nicht vorstellen, dass ein so kleiner, krummbeiniger Hund überhaupt rennen konnte. Aber Martin ging bereits weiter und sie wollte nicht mit ihm streiten.
Sie erreichten den Rand des Wäldchens. Rhosmari kribbelte es am ganzen Körper vor Aufregung – und Furcht. Wenn Garan nun tot war? Oder wie Llinos ein Sklave der Kaiserin? Jeden Moment konnte einer der Rebellen aus den Bäumen treten und dann würde sie es wissen.
Doch niemand kam. Sie ging mit Martin einmal durch das Wäldchen und wieder zurück, doch von einer Fee war nichts zu sehen, im Gegenteil. Der Geruch schien schwächer geworden zu sein statt stärker.
»Wie dumm von mir!«, rief Martin so plötzlich, dass Rhosmari erschrak. »Ich hätte es mir denken können. Sie sind gar nicht hier, sondern im Haus.«
»Dort drinnen?« Stirnrunzelnd betrachtete Rhosmari Waverley Hall. Die Vorstellung kam ihr abwegig vor. Selbst wenn die Besitzer Zimmer an Gäste vermieteten, wären die Kosten doch unerschwinglich gewesen. Sie selber hatte nur für wenige Tage Essen und Unterkunft zahlen müssen und trotzdem kaum Geld übrig … Wie viel genau hatte sie eigentlich noch?
Mechanisch schob sie die Hand in die Tasche ihres Rocks und zog das erste Stück Papier heraus, das sie zu fassen bekam – einen kleinen Karton, dessen Ende abgerissen war. Sie betrachtete ihn verwirrt, dann fiel ihr ein, dass es sich um ihre Theaterkarte vom Vorabend handelte. Nur … die Karte war blau gewesen und der Name des Stücks darauf
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