Rhosmari - Retterin der Feen
nicht gerade noch rechtzeitig festgehalten. »Ohne Übertreibung, er muss halb so groß gewesen sein wie Lydia. Ich werde nie wissen, wie sie ihn gefangen hat. Und ich sitze da, mit einem …«
Er hielt die Fingerspitzen etwa eine Handbreit auseinander. Paul grinste und Peri lachte. Doch Rhosmari war so mit ihren Gedanken beschäftigt, dass sie nicht einmal lächelte.
Da saß sie nun bei einer einfachen Mahlzeit aus Brot, Wurst und Käse an einem Tisch, der so klein war, dass sie auf der einen Seite an Timothys Knie und auf der anderen an das Rad von Pauls Rollstuhl stieß, und hörte zu, wie drei Menschen Geschichten von Orten erzählten, an denen sie nie gewesen war, von Menschen, die sie nicht kannte, und von Erlebnissen, die nichts mit ihr zu tun hatten – Gespräche, die für die meisten Feen belanglos oder sogar unhöflich gewesen wären. Und Timothy hatte ihnen soeben erzählt, wie seine kleine Schwester ihn lächerlich gemacht hatte. Wie konnte sie darüber lachen, ohne dass es wie Spott klang?
Aber natürlich hatten die Menschen einen anderen Humor als Feen. Rhosmari hatte es immer gewusst und würde sich mit der Zeit bestimmt daran gewöhnen. Was ihr viel mehr zu denken gab, war, dass sie sich trotz der einfachen Mahlzeit, der schlichten Umgebung und der seltsamen Gesellschaft gut unterhielt.
»Deshalb gab ich das Angeln auf und hielt mich an die Gitarre.« Timothy zog die Obstschale zu sich her und nahm sich noch eine Handvoll Trauben.
»Tja«, sagte Paul, »wir sind eben nicht alle Multitalente.«
Timothy schnaubte. »Sagt der Künstlerprofi, der jede Menge Preise im Rudern und Rollstuhlrugby gewonnen hat. Besten Dank – oh, Entschuldigung.« Die letzte Bemerkung war an Rhosmari gerichtet, die bei dem achtlos dahingesagten Wort Dank zusammengezuckt war. »Ich habe ganz vergessen, dass du eine Fee bist.«
»Rhosmari betrachtet das wahrscheinlich nicht als Kompliment, Tim«, sagte Peri. Sie stand auf und begann den Tisch abzuräumen. Timothy wollte sich erneut entschuldigen, doch Peri fiel ihm ins Wort. »Hör lieber auf, sonst setzt du dich noch einmal richtig in die Nesseln. Willst du Rhosmari nicht zur Eiche rüberbringen?«
»Natürlich. Das da lasse ich lieber hier …« Timothy steckte die Hand in die rechte Hosentasche und legte einen eisernen Anhänger an einem Lederriemen auf den Tisch. »Kommst du, Rhosmari?«
Verglichen mit dem verwilderten Park von Waverley Hall war der Garten von Oakhaven ein Kunstwerk. Der Rasen war von Blumenrabatten und perfekt geschnittenen Hecken gesäumt. Es gab auch Bäume und einige standen im Begriff zu blühen – doch wirkten sie im Vergleich zur Majestät der kahlen Eiche ein wenig dürftig. Die Eiche sah von Nahem noch gewaltiger aus, und Rhosmari, die hinter Timothy durch die Glastür auf der Rückseite des Hauses trat, war froh, auf ihrem Weg Begleitung zu haben.
Und noch etwas beschäftigte sie. Sie wollte es beiseiteschieben, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder dahin zurück wie die Zunge zu einer Zahnlücke.
»Ich weiß, dass die Eichenwelt anders ist als die Grünen Inseln«, sagte Timothy. »Aber die Eiche ist ein außergewöhnlicher Ort und …« Er blieb stehen und sah Rhosmari stirnrunzelnd an. »Was ist?«
»Warum bist du eigentlich so nett zu mir?« Sie hatte die Frage gar nicht stellen wollen, aber sie war übermächtig geworden und Rhosmari konnte sie nicht für sich behalten. Erst jetzt, nachdem sie sie ausgesprochen hatte, merkte sie, wie misstrauisch, ja feindselig ihre Worte klangen.
»Heißt das, ich sollte es lieber nicht sein? Oder hast du erwartet, ich würde dich ignorieren?«
Rhosmari wurde rot vor Verlegenheit. »Ich frage es mich einfach.«
Timothy hob die Hand und fuhr sich durch die schwarzen Haare. »Also, ich habe deinen Brief gelesen und gehört, was Garan den anderen über dich erzählt hat. Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, aber … du erinnerst mich an mich selber.«
»Wirklich? Inwiefern?«
»Ich bin vor einigen Monaten aus Uganda nach England gekommen.« In Timothys Augen war ein abwesender Blick getreten. »Dort hatte ich gelebt, solange ich denken kann. Meine Familie und meine Freunde waren dort und die Kirche, in der ich aufgewachsen bin, und ich fühlte mich sicher und geborgen. Dann kam ich hierher, um zur Schule zu gehen, und alles war fremd und abweisend. Ich war ganz allein und alle, auf die ich gerechnet hatte, ließen mich im Stich, und alles, was ich anfing, endete in einer
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