Rhosmari - Retterin der Feen
plötzlich taube Beine. Ich glaube, er hat sie manchmal immer noch, obwohl er nicht gerne darüber spricht.«
Also deshalb war er vergangene Nacht gestürzt. Rhosmari hatte geglaubt, er sei nur gestolpert. Sie bekam auf einmal Gewissensbisse. Kein Wunder, dass Timothy bei seiner Ankunft in Waverley Hall so viel Eisen getragen und Peri sich so aufgeregt hatte, weil er allein nach oben gerannt war, um Rhosmari vor Martin und der Kaiserin zu retten. Es war ganz schön mutig von ihm, einem Gegner – oder sogar zweien – gegenüberzutreten, der ihn so schwer verletzt hatte.
»Er ist übrigens auch hier eingesperrt«, sagte Linde und sah Rhosmari mit ihren braunen Augen ernst an. »Peri und Paul mussten ihn von der Schule befreien lassen, weil die Kaiserin gleich am ersten Tag, an dem er wieder zur Schule gehen wollte, jemanden losschickte, um ihn zu töten. Wenn Lily ihn nicht begleitet und auf ihn aufgepasst hätte …« Linde erschauerte ein wenig.
Das Haus war also Timothys Gefängnis, genauso wie die Eiche ihres war. Rhosmari hatte ihm schon wieder unrecht getan – und musste sich bei ihm entschuldigen. Vielleicht wollte er ja gar nicht mehr mit ihr sprechen, nachdem sie ihn am vergangenen Abend so schnöde hatte sitzen lassen.
»Wenn du mit mir kommst«, fuhr Linde munterer fort, »könnte ich dir die Eiche zeigen. Damit du weißt, wo alles ist, zum Beispiel das Bad, die Küche und die Bibliothek.«
»Ihr habt eine Bibliothek?« Rhosmaris Müdigkeit war wie weggeblasen. Wenn sie Bücher lesen konnte, brauchte sie wenigstens nicht untätig herumzusitzen. Und wer weiß, vielleicht erfuhr sie beim Lesen ja etwas, das ihnen gegen die Kaiserin helfen konnte. »Gibt es dort auch Geschichtsbücher über die Eiche, die ich mir ansehen könnte? Bücher, in denen Jasmin vorkommt? Die beschreiben, wie sie war, als sie noch hier lebte?«
Linde sah sie überrascht an. »Hm, ja, einige solche Bücher gibt es. Nicht viele, aber …«
»Ist es zur Bibliothek weit? Kannst du mich hinbringen?«
»Sie liegt gleich am Fuß der Wendeltreppe«, sagte Linde. »Komm runter, wenn du dich angezogen hast, dann zeige ich sie dir.«
»Das ist alles, was wir über Jasmin haben«, sagte Pechnelke und schob einen Stapel Bücher über den Tisch. Die Bibliothekarin hatte in Rhosmari sofort einen verwandten Geist entdeckt und sie in ein Gespräch über Feengeschichte verwickelt. Linde drückte sich verlegen noch eine Weile herum und ging dann leise. »Willst du die wirklich alle lesen? Ich könnte den Inhalt auch für dich zusammenfassen.«
»Das ist nett«, sagte Rhosmari und nahm das oberste Buch vom Stapel. »Aber ich würde sie gerne selbst durchsehen. Habt ihr zu diesem Thema auch Wissenskapseln?«
Pechnelke sah sie verwirrt und zugleich neugierig an. »Nein, was ist das?«
»Bewegte Berichte über ein Ereignis aus der Perspektive einer einzelnen Person«, erklärte Rhosmari. »Sie können trotzdem irreführend sein und auch verschieden gedeutet werden – aber sie sind nützlich, wenn man wissen will, wie etwas zu der Zeit, als es geschah, aussah oder sich anhörte.«
»Wie werden diese Kapseln denn hergestellt?« Pechnelke hatte sich fasziniert vorgebeugt und ihre Augen glänzten. »Kannst du mir zeigen, wie sie funktionieren?«
»Gern«, antwortete Rhosmari. »Vielleicht später, wenn ich diese Bücher durchgesehen habe?«
»Oh – ja, natürlich.« Die Bibliothekarin konnte ihre Enttäuschung nur schwer verbergen. Sie richtete sich wieder auf. »Wenn du Fragen hast oder etwas brauchst, läute die Glocke. Ich bin im Archiv im Nachbarzimmer.«
Rhosmari blieb allein in der Stille der muffigen, fensterlosen Bibliothek zurück und blätterte durch das erste der Bücher, die Pechnelke ihr gegeben hatte. Bei Königin Schneeglöckchen handelte es sich offenbar um eine Biografie der Fee, von der die Kaiserin als ihrer Lehrerin gesprochen hatte. Zwei weitere Bücher, Versuch einer Geschichte der Eichenfeen und Nach der Spaltung, waren von der verstorbenen Königin Amaryllis verfasst worden, dazu kamen noch drei abgenutzte Tagebücher aus dem Besitz Heides, jener Fee, die Philip Waverley geheiratet und ihm zwei Kinder geboren hatte.
Rhosmari begann zu lesen und vergaß darüber die Zeit und ihre Umgebung. Sie tauchte in die Welt der Bücher ein, dachte über dies und jenes nach und machte sich Notizen, wenn sie glaubte, etwas könnte nützlich sein. Über die Kaiserin hatte sie bis jetzt noch nichts erfahren, das sie nicht schon
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