Richard Castle
zögernd die Arme aus und umfasste die Schachtel mit beiden Händen. „Vielen Dank, Madame Bernardin. Ich werde sorgfältig damit umgehen und Sie Ihnen morgen zurückbringen.“
„Nein, Nikki, diese Bilder gehören Ihnen. Bitte behalten Sie sie. Ich bewahre meine Erinnerungen hier drinnen auf.“ Sie legte eine Hand auf ihr Herz. „Ihre sind in dieser Schachtel und müssen erst noch entdeckt werden. Ich hoffe, dass sie Sie Ihrer Mutter näherbringen.“
Es war ein Kampf. Sogar für die selbsternannte Königin des Belohnungsaufschubs, die den Deckel schon auf dem Rückweg zum Hotel im Taxi von der Schachtel reißen wollte. Doch sie blieb standhaft. Ihre Angst, auch nur ein einziges Foto zu verlieren, besiegte ihre quälende Neugier.
Rook ließ Heat ein wenig Raum. Er zog los, um eine Zinc-Bar zu finden, die ihm einen doppelten Espresso servieren und ihn so mit seiner dringend benötigten Koffeindosis am späten Nachmittag versorgen würde. Sie blieb derweil im Hotelzimmer und beschäftigte sich mit dem unerwarteten Schatz, den ihr die Bernardins zur Verfügung gestellt hatten. Eine halbe Stunde später kehrte er mit einer eisgekühlten Dose ihrer geliebten Orangenlimo von San Pellegrino zurück und fand Nikki im Schneidersitz auf dem Bett vor. Um sie herum lagen reihenweise ordentlich sortierter Schnappschüsse und Postkarten, die sie wie Sonnenstrahlen umgaben. „Hast du irgendwas Brauchbares gefunden?“
„Brauchbar?“, erwiderte sie. „Schwer zu sagen, was brauchbar ist. Interessant? Absolut. Sieh dir das hier mal an. Sie war so niedlich.“ Nikki hielt einen Schnappschuss ihrer Mutter hoch, die lachend und ein wenig albern posierte, während sie den Oberarm eines Gondoliere unter der Seufzerbrücke in Venedig drückte. „Dreh es um, sie hat was auf die Rückseite geschrieben.“
Rook drehte das Foto um und las laut vor. „Liebe Lysette, Seufz!“
„Meine Mom war ein ziemlicher Hingucker, nicht wahr?“
Er gab ihr das Foto zurück. „Ich bin zu clever, um so eine Frage über deine Mutter zu beantworten. Zumindest, bis wir bei Jerry Springer zu Gast sind.“
„Ich glaube, du hast sie gerade beantwortet.“
Er setzte sich auf die Bettkante und achtete darauf, die sortierten Bilder nicht durcheinanderzubringen. „Was hältst du von all dem?“
„In erster Linie sieht es so aus, als ob sie jede Menge Spaß gehabt hätte. Du kennst doch diese Fotos in der
Vanity Fair
und der
First Press
, auf denen man die reichen und privilegierten Europäer sieht und sich fragt, wie es wohl sein muss, so ein Leben zu führen. Meine Mutter hat dieses Leben geführt. Zumindest, wenn sie als private Musiklehrerin unterwegs war. Sieh dir mal ein paar dieser Bilder an.“ Nikki blätterte ihm die Fotos eins nach dem anderen wie Spielkarten hin, und jedes zeigte die junge Cynthia in einer protzigen Umgebung: auf der ausladenden Rasenfläche eines Landsitzes, der direkt aus der Serie
Downton Abbey
hätte stammen können; an einem lackierten Flügel vor einem Fenster, durch das man einen wundervollen Ausblick auf die felsige Küste des Mittelmeers hatte; auf der privaten Terrasse einer Villa auf der Spitze eines Hügels mit Blick auf Florenz; in Paris mit einer asiatischen Familie unter dem Festzelt für das gastierende Bolschoi-Ballett; und so weiter und so fort. „Für sie war diese private Musiklehrerinnensache offenbar wie ein Märchentraum, aus dem man aufwachen musste, aber wenn man das tat, kam der Butler und holte das Gepäck.“
Es gab auch Bilder von Nicole und anderen jungen Freunden im Alter ihrer Mutter sowie ein paar Schnappschüsse, die ihre Mom und deren Freunde einzeln vor diversen Sehenswürdigkeiten in Europa zeigten. Sie grinsten und vollführten ausladende Gesten wie die Assistentinnen bei
Der Preis ist heiß
, was offenbar eine Art privater Witz unter ihnen war. Doch Nikki blieb auf ihre Mutter und die ständigen Reisen durch Frankreich, Italien, Österreich und Deutschland konzentriert. Auf zahlreichen Fotos war sie mit ihren Gastfamilien zu sehen. Die meisten von Cindys Arbeitgebern erweckten den Eindruck alter reicher Familien. Manche standen pompös in einer runden Einfahrt oder einer privaten Gartenanlage herum, doch hauptsächlich zeigten die Bilder das, was man erwarten würde: der Größe nach aufgestellte Gruppen aus Müttern, Vätern und ungeduldigen jungen Musikern mit Fliegen oder Rüschenkleidern vor einem Steinway-Flügel. Auf diesen Gruppenbildern gab es noch eine weitere Person.
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