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Richard Dübell

Richard Dübell

Titel: Richard Dübell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allerheiligen
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langgestreckte Haube des Martinsturms, doppelt gekrönt von zwei Fialenkränzen. Es ging die Sage, dass die Bürger den Turm im 14 . Jahrhundert so hoch geplant hatten, damit sie, wenn sie auf dem unteren Turmkranz standen, dem Landshuter Herzog auf der Burg in die Suppenschüssel schauen konnten. Wenn sie es jemals getan hatten, war ihnen nicht viel Zeit dazu geblieben; der Turm war nach hundertelf Jahren Bauzeit im Jahr 1500 fertiggestellt worden, und schon 1506 war das Landshuter Herzogsgeschlecht erloschen.
    Üblicherweise weckte der Anblick des hoch in den Himmel ragenden Turms Stolz in Peter auf die Männer und Frauen seiner Heimatstadt, die sich vor über sechshundert Jahren dieses Bauprojekt zugetraut hatten. Heute weckte der Martinsturm jedoch bloß die Erinnerung daran, dass nach 1506 die einstmals wichtigste Stadt des Herzogtums Bayern bedeutungslos geworden war. So bedeutungslos, dass jetzt, über fünfhundert Jahre später, immer noch ein aufgeblasener Münchner Polizist kommen und behaupten konnte, die Landshuter Beamten seien bei einem anspruchsvollen Fall nur im Weg.
    Was hatte er vorgehabt, als er aus der Dienststelle gekommen war? Die Stadtcafés nach Flora und Harald absuchen? Liebe Güte, war er jetzt zum Stalker verkommen? Erschüttert machte Peter sich klar, dass er sich komplett zum Narren gemacht hätte, wenn der Stiftspropst ihn nicht aus dem Tritt gebracht hätte. Er sollte schon aus Dankbarkeit in den nächsten Gottesdienst gehen und inbrünstig mitsingen.
    Heute war sein dienstfreier Tag. Und den halben Morgen hatte er schon damit verschwendet, sich zu ärgern. Es war Sommer, der Tag versprach, sonnig zu werden – er sollte irgendetwas unternehmen. Und sich dabei vorstellen, wie es wäre, wenn Flora ihn begleitete …
    Nein, das würde er nicht tun! Wütend auf Harald Sander, vor allem aber wütend auf sich selbst stapfte er durch die Kirchgasse, am Eingang von Monsignore Sebastian Tiodoros Pfarramt vorbei, um den Chor der Martinskirche herum und unter den Ahornbäumen des Martinsfriedhofs hindurch, bis er wieder draußen in der Altstadt stand, an der gleichen Stelle, an der Flora ihm heute Morgen einen Korb gegeben hatte.
    Er wandte sich ab und stapfte zum Dreifaltigkeitsplatz und zu seiner Wohnung.
    Vor seinem Haus wartete ein Ritter mit Helm und gezogenem Schwert auf ihn.
8 .
    »Du spinnst komplett«, sagte Peter.
    »Wieso?«, fragte Connor. Seine Stimme klang dumpf unter dem Helm hervor. »Sieht doch toll aus!«
    »Ich meine deinen Anruf beim Stiftspropst. Wegen des Martinsturms.«
    »Oh. Sag bloß, er hat es sich doch noch überlegt.«
    »Nein!«, rief Peter. »Er hat es sich nicht anders überlegt! Und er hat mir dies ziemlich deutlich zu verstehen gegeben!«
    »Wäre sowieso nicht gegangen«, sagte Connor. Seine Stimme klang weiterhin dumpf, aber fröhlich. »Dreißig Kinder auf den Turm raufschaffen – ich bitte dich!«
    Der Ritter, der vor Peters Haustür gewartet hatte, war Connor Lamont – komplett mit einem geschlossenen mittelalterlichen Helm auf dem Kopf, einem knielangen Kettenhemd und einem noch längeren dunkelblauen Waffenrock darüber, auf dessen Brustteil ein aufgerichteter Löwe gestickt war. Peter nahm den Schotten mit hinauf in seine Wohnung. Die alte Holztreppe ächzte unter Connors Gewicht. Der Schotte war zwar schlank, aber einen halben Kopf größer als Peter, der selbst nicht gerade zu den Kleinen zählte. Doch das Knarzen der Treppe wurde hauptsächlich von dem Kettenhemd verursacht, das wahrscheinlich etliches Gewicht auf die Waage brachte. In der Wohnung stapfte Connor, der sich überall, wo er hinkam, sofort nach Kräften wie zu Hause fühlte, herum und brachte auch den dunklen Bretterboden zum Knarren.
    »Nimm doch endlich den verdammten Helm ab«, sagte Peter.
    Connor hob die Hände, die in schweren ledernen Handschuhen steckten. »Krieg die Schnalle nicht auf. Sorry.«
    »Meine Güte!« Peter öffnete den Lederriemen unter Connors Kinn.
    Connor zog sich den Helm vom Kopf. Ein verschwitztes, aber glücklich grinsendes Gesicht mit einem rasanten pechschwarzen Oberlippen- und Kinnbart und einem kahlrasierten Schädel kam zum Vorschein. Alles an Connor Lamont war dunkel, vor allem seine Haut. Der Schotte wäre in den Gassen einer beliebigen Stadt in Ghana oder der Elfenbeinküste nicht aufgefallen. Dennoch besaß er einen amtlich beglaubigten Familienstammbaum, der bis ins 13 . Jahrhundert zurückreichte und ihn als Mitglied eines der mächtigsten

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