Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
ich wieder erwacht war, sie nicht an meinem Bett stand. Aber ich war wohl in dieser ersten Zeit nicht ganz zurechnungsfähig.«
»Immerhin«, warf Lukastik ein, »waren Sie imstande, einen Brief zu schreiben. Peinlich oder nicht, die Widmung am Schluß ist genial, auch wenn Ihnen jemand um zweihundert Jahre zuvorgekommen ist.«
»Nicht wahr. Genau so sehe ich das. Nur leider geschah es, daß Lisa mich auch später nicht besuchen kam. Statt dessen hat sie mir ausrichten lassen, ich solle ihr nicht böse sein, aber kranke Menschen wären ihr nun mal ein Greuel. Man muß sich das vorstellen, ein Greuel.«
»Und später, als Sie wieder gesund waren?«
»Nach Lisas Anschauung bin ich das wohl nie wieder so richtig geworden. Vielleicht meiner Schwerhörigkeit wegen, obwohl kaum jemand etwas bemerkt hat. Lisa wußte freilich davon. Das scheint ihr als Grund völlig ausgereicht zu haben, das bloße Wissen um ein desolates Gehör. Sie ist mir konsequent ausgewichen und ein halbes Jahr später – ich denke, wegen eines anderen Mannes – nach München gegangen. Die Sache war gelaufen. So ist das. Mit solchen Dingen muß man leben. Womit ich dann aber nicht leben konnte, war der Moment, als mir zwei Jahre nach dieser Geschichte mein wunderbarer Freund Oborin ein Exemplar seines soeben erschienenen Handschrift und Lüge zugeschickt hat, und zwar mit einer Widmung darin, die ich zunächst überhaupt nicht begriff. Da stand: Wem sonst, als Hölderlins Nachahmer . Was das zu bedeuten hatte, wurde mir erst klar, als ich dieses schwachsinnige Hölderlin-Kapitel las und erkennen mußte, daß Lisa so herzlos gewesen war, meinen Brief an Oborin auszuhändigen.«
»Warum hat sie das getan?«
»Ich wollte Lisa nicht fragen, wollte nicht in München anrufen und mich noch einmal lächerlich machen. Oborin aber habe ich zur Rede gestellt. Er war abweisend und selbstherrlich. Kaltblütig wie in einundsiebzig Metern Tiefe. Er hat bloß erklärt, Lisa habe ihm anläßlich ihres Umzugs nach München einen Stapel von Briefen unterschiedlicher Absender überlassen. Für seine Sammlung. Und da er gerade an seinem Hölderlin-Kapitel gearbeitet habe, sei ihm das von mir gestohlene Zitat gerade recht gekommen, um neben der Lüge auch noch den Betrug graphologisch zu determinieren.«
Sternbach machte eine Pause. Und ein wehmütiges Gesicht.
Wie um Wehmut und Pause nicht ausufern zu lassen, schnippte Lukastik mit den Fingern und meinte: »Sie haben Oborin sicherlich erklärt, daß von Betrug keine Rede sein kann.«
»Natürlich habe ich das«, nahm Sternbach den Faden wieder auf. »Aber er hat mich bloß ausgelacht. Hat mir nicht geglaubt.«
»Kein Grund«, meinte Lukastik, »ihn – wenn ich richtig rechne – acht Jahre später einem Hai in den Rachen zu schieben.«
»Wieso nicht?« Sternbach zeigte sich ernsthaft verwundert. »Denken Sie denn, daß die Wucht einer Demütigung mit den Jahren abnimmt?«
»Demütigung ist ein starkes Wort«, wog Lukastik seinen Kopf hin und her. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Zwettler Bürger wegen dieser Sache mit dem Finger auf Sie gezeigt haben. Abgesehen davon, daß doch wohl kaum jemand hat wissen können, wer mit Herrn S. eigentlich gemeint war. Um so mehr, als man den Namen Sternbach natürlich mit St. statt mit S. abkürzen müßte.«
Der Angesprochene wirkte mit einem Mal erregt, nervös, auch ungeduldig, als er jetzt sprach: »Das ist es doch. Die Demütigung wurde gerade dadurch perfekt, daß mich Oborin zwar des Betruges bezichtigte, mir aber nicht einmal meinen wahren Namen zugestanden hat. Nichts da! Er hat mich hinter einem unvollständigen Pseudonym abgestellt, so wie man ein behindertes Kind versteckt. Das ist grausam. Und weil es grausam ist, hat sich etwas in mir dagegen gesperrt, den Kontakt zu Oborin einfach aufzugeben. Ich bin in all diesen Jahren weiterhin sein Freund geblieben, habe seine verdammten Haare geschnitten und seine überflüssigen Kommentare zur menschlichen Handschrift über mich ergehen lassen. Und als der Moment kam, seinen Tod herbeizuführen, habe ich diese Chance genutzt.«
»Sie haben lange gewartet.«
»Ich bin kein Killer, der imstande wäre, eine solche Möglichkeit zu konstruieren. Vielmehr mußte sich mir diese Möglichkeit aufdrängen. Doch dann, als sie sich bot, wäre es eine Sünde gewesen, darauf zu verzichten. Jawohl, eine Sünde.«
»Eine ziemlich hohe Strafe«, stellte Lukastik fest, »wenn man die Geringfügigkeit von Oborins Verbrechen
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