Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
ging er in eines seiner beiden Zimmer. Auch ohne Baum vor dem Fenster war es hier recht dunkel. Das südfruchtige Licht der Abendsonne glühte auf dem gegenüberliegenden Dach. Lukastik schlüpfte aus seinem Hemd und nahm ein frisches aus dem Kasten, welches er über die Stuhllehne hängte. Halbnackt stand er in der Mitte des schmalen, karg eingerichteten Zimmers, blickte auf den Schrankspiegel und überlegte, wie viele Jahrzehnte seine Großmutter sich darin betrachtet und an keinem Ort so sehr wie in diesem Spiegel die Veränderungen ihres Körpers hatte registrieren müssen.
An sich selbst hatte Lukastik in den dreieinhalb Jahren, seit er hier lebte, kaum eine Veränderung bemerkt. Sein Körper schien in der Zeit festzustecken, konserviert im Zustand der Mitte, zwischen jung und alt, kräftig und schwach, dick und schlank, pelzig und unbehaart, fleckig und rein, hoffnungsvoll und hoffnungslos.
So, als hätte er genug gesehen, wandte er seinem Spiegelbild den Rücken zu und betrachtete die beiden Fotographien, die über einem kleinen, dünnbeinigen, gegen die Wand geschobenen Tisch hingen. Die zwei Porträts waren peinlich genau auf gleicher Höhe angebracht. Ihre äußeren Seiten bildeten eine Linie mit den Außenkanten des Tisches, in dessen Mitte ein aus seinem schwarzen, lederüberzogenen Behältnis herausgeklappter Wecker stand. Diese ganze Anordnung besaß den Charakter eines kleinen Altars, ein Eindruck, der sich durch die Kenntnis verstärkte, daß die Zeiger dieser Uhr stillstanden. In der Mitte des weißen Zifferblatts war eine kleine Figur aufgemalt, ein mit einem Mantel bekleideter Mann, der mit dem Rücken zum Betrachter stand und dessen Hinterkopf jenen zentralen Punkt bildete, von dem die vier Zeiger ihren Ausgang nahmen. Daß es sich tatsächlich um einen Mann handelte, stellte natürlich eine bloße Vermutung dar, die sich aus der Form des dunklen Mantels und der Statur der Figur ergab.
Auch die beiden auf Holzplatten aufkaschierten Fotographien bestätigten jene sakrale Wirkung. Es handelte sich um die Porträts zweier Männer, von denen der eine die äußerste Berühmtheit verkörperte, während der andere bloß einem kleinen Fachpublikum vertraut war. Für Lukastik waren es seine Götter, seine Helden des 20. Jahrhunderts: Ludwig Wittgenstein und Josef Matthias Hauer.
Nach Lukastiks Dafürhalten hatten Wittgenstein und Hauer die allergrößte Klarheit in die Welt gebracht, eine Klarheit, die dieser Welt ihre Würde zurückgegeben hatte. Wittgensteins Logik und Hauers Zwölftonspiele schufen atembare, vollkommen reine Luft. Links Wittgenstein, rechts Hauer, beide den Kopf zur Mitte hin gewandt, beide in verhältnismäßig jungen Jahren.
Hauers Klavierstücke aus zwölf Tönen und Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus besaßen zwar nicht jene medikamentöse Wirkung, die nötig gewesen wäre, um die zuvor erwähnte tiefgreifende »Linderung« hervorzurufen, aber die Musik wie die Schrift waren für Lukastik Wegweiser, die ihm halfen, sich auf begehbaren Wegen zu halten. Denn die meisten Wege waren ja dazu angetan, auf ihnen wie auf Wasser zu marschieren. Und wer kann das schon? Weshalb die meisten Menschen sich diverser Tricks bedienen, von denen der populärste darin besteht, ein bißchen verrückt zu werden. Lukastik aber wollte nicht verrückt werden, auch nicht ein bißchen, sondern mit einem geraden Schritt auf einem geraden Weg sich fortbewegen. Nicht hüpfenderweise und nicht auf Händen gehend, nicht schwebend, nicht fliegend. Vom Anfang her, zum Ende hin, und keinesfalls von Stein zu Stein.
Damit ihm dies auch gelingen konnte und er nicht etwa auf eine Abzweigung geriet, gab er sich beinahe täglich einer Hauerschen Komposition hin. Zudem schlug er des öfteren eine x-beliebige Seite aus Wittgensteins heftchendickem Hauptwerk auf, welches er als sein Vademecum definierte. Von einer »Bibel« zu sprechen vermied er hingegen. Über Bibeln konnte man diskutieren. Nicht über den Tractatus . Er war wie ein Nagel in einem Scharnier.
Lukastik verstand sich als ein philosophischer Laie. Auch war es so, daß er vieles in diesem Buch nicht verstand. Da sich aber jeder Satz, den er von Beginn an oder im Laufe der Zeit begriffen hatte, nicht nur als wahrhaftig, als brillant und messerscharf, sondern eben auch als ausgezeichneter Wegweiser herausgestellt hatte, ging Lukastik davon aus, daß dies auch für alle jene Teile gelten mußte, die sich ihm nicht oder noch nicht erschlossen
Weitere Kostenlose Bücher