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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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gereifte Schwester, den ehemaligen Diplomaten als Suppenkoch –, war für ihn ein sicherer Ort. Auch ein Hafen, aber eben ein ziemlich freier. Er schätzte diese Abendessen ungemein. Selbst wenn die Stimmung bei Tisch getrübt oder sogar miserabel war. Selbst dieses Miserable besaß für ihn eine behagliche Note. Zwei Suppen lang war das genau das Richtige.
    Allerdings hatte er nicht verhindern können, was auch gar nicht zu verhindern gewesen war, nämlich eine gewisse Gefühlsaufwallung in Richtung seiner Schwester zu entwickeln. Wobei er tunlichst vermied, dies irgendwie zum Ausdruck zu bringen. Was hätte er auch machen sollen? Ihr an die Hüfte fassen? Ihren Hintern berühren? Es beutelte ihn bei diesem Gedanken. Nicht des Hinterns wegen. Sondern hinsichtlich der eigenen Hände, die in seiner Vorstellung durch die Luft zitterten, von Geilheit gesteuert, um nach dem Rock zu greifen und die Glätte des Stoffes zu ertasten. Und sich sodann auch noch in diesen Stoff und diesen vom Stoff umspannten Hintern zu verkrallen.
    Es gab natürlich auch noch andere Möglichkeiten, jemand seine Liebe zu zeigen. Aber keine davon kam in Frage. Es war das eigene fortgeschrittene Alter, das Lukastik abschreckte, geradeso, als sei Inzucht nur in Zeiten relativer Jugend eine akzeptable Sache.
    Er vermied es, Gespräche mit seiner Schwester zu führen, die auch nur ungefähr dieses Thema berührten. Andererseits kam er nicht umhin, sich gerne in ihrer Nähe aufzuhalten, mit ihr zu plaudern oder auch bloß zu zanken. So gab es durchaus Momente, da die beiden nach dem Abendessen beieinandersaßen und über unverfängliche Dinge wie Kunst und Politik sprachen. Ja, es war unverfänglich zu nennen, wenn man über Nahost, Zinssenkung, UNO-Mandat oder irgendeine innenpolitische Sauerei debattierte. Im Vergleich mit Inzest war so ziemlich alles unverfänglich.
    In Gegenwart von Vater und Mutter jedoch, quasi im Reich der Suppe, lag immer eine gewisse Gespanntheit zwischen den Geschwistern, eine Gespanntheit, die nichts von einem Schäkern an sich hatte. Aber eben auch diesen Zustand genoß Lukastik.
    Es war eine kleine Verbeugung, die der Chefinspektor jetzt im Angesicht der beiden Fotoporträts vollzog. Kaum merkbar, mehr eine Bewegung des Kinns als sonstwas. Eine stille Geste für seine beiden Götter. Ein Gebet ohne Zweck und ohne Bitte.
    Dann nahm er das frische, weiße Hemd vom Stuhl, öffnete die Knöpfe und schlüpfte hinein wie in einen kleinen, engen Raum, einen Kasten, in dem man sich versteckt.

6       Die Rollos in Dr. Pauls Studierstube waren nach oben gezogen. Der Blick durch die Scheiben fiel auf eine Parkanlage. Das Licht der Straßenlaternen bildete um den Rand herum ein beinahe kreisrundes Muster, so daß der Eindruck einer Torte entstand. Darüber erhob sich ein Himmel von kaltem, dunklem Blau. Auf drei vereinzelten Wolkenstreifen spiegelte sich eine bereits untergegangene Sonne. Wie jemand, der, längst abgesunken, nach Hilfe schreit, aber natürlich nur noch ein Blubbern zustande bringt.
    Rechts und links neben der Leiche standen Dr. Paul und Erich Slatin und fachsimpelten. Lukastik stand ein wenig abseits, nahe am Fenster und blickte auf den Park hinunter. Er sah eine Frau, die einen Kinderwagen schob. Der Mann neben ihr bewegte sich wie ein Stein auf Rollen. Immer wieder verschwanden die beiden hinter den dunklen Flecken der Bäume und Sträucher. Kirchengeläute war zu hören, trotz geschlossener Fenster. In der Ferne leuchtete ein Hochhaus.
    Lukastik griff in seine Anzugtasche und zog das kleine Büchlein heraus, das er ausnahmslos bei sich trug: Wittgensteins Tractatus . Man konnte nie wissen, was geschah. Andere Leute besaßen eine Latte von Kreditkarten, überquerten ohne Handy keine Straße oder gingen nie ohne ein Fläschchen mit Wiener Leitungswasser, einem Beutel Instantkaffee und einem Stadtplan aus dem Haus. Viele Menschen ließen sich von einem Hund begleiten oder trugen einen Glücksbringer am Herzen. Lukastik hingegen vertraute auf dieses kaum mehr als hundert Seiten starke Buch, jene Taschenbuchausgabe von Suhrkamp, die so überaus handlich in Innen- und Außen-, Sakko- und Hosentaschen paßte und sich wegen des brennend roten Umschlags auch bestens eignete, die eigene Farblosigkeit zu mindern.
    Freilich zählte für Lukastik in erster Linie der praktische Nutzen, der darin bestand, mittels der philosophischen Abhandlung immer wieder auf den »geraden Weg« zurückzufinden. Weshalb er nun recht

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