Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
hatten. So wie ein Objekt ja nicht weniger wirklich ist, bloß weil es vom Betrachter aus gesehen hinter einer Ecke steht. Das Objekt ist also nicht unsichtbar, sondern nicht sichtbar. Und das ist doch wohl ein Unterschied.
Wenn man nun Richard Lukastiks unbegründbare Ordnungsprinzipien bedenkt – Zigaretten verglühen lassen, Früchte nur mit der linken Hand pflücken et cetera – und seine Hinwendung zu glasklarer Philosophie und einer nicht minder glasklaren zwölftönigen Musik in Betracht zieht, kommt man nicht umhin, sich ein dunkles Geheimnis zu wünschen, das diesen Mann umgibt.
Tatsächlich existierte ein solches. Und auch wenn dieses Geheimnis nichts mit den ritualisierten Verfahrensweisen, so wenig wie mit der Begeisterung für Hauer und Wittgenstein zu tun haben mochte, so muß dennoch darüber gesprochen werden: Lukastiks Liebe zu seiner Schwester.
Eine durchaus ausgelebte Liebe, wobei dieses Ausleben gut fünfundzwanzig Jahre zurücklag, Lukastik also zweiundzwanzig und seine Schwester vierundzwanzig gewesen waren, als sie während eines dreiviertel Jahres regelmäßig miteinander geschlafen hatten. Nicht ganz ohne Schuldgefühle, obzwar beide die Übereinstimmung ihrer Herkunft als biologische Banalität begriffen hatten, somit nicht wirklich dazu angetan, sich sexuell aus dem Weg zu gehen. Selbstbefriedigung etwa war ihnen weit abartiger vorgekommen, geradeso, als sei Münchhausens groteske Lüge vom Mann, der sich am Haarzopf aus dem Sumpf zieht, ins Erotische übersetzt worden.
Die Schuldgefühle hatten sich wohl aus der Heimlichkeit des Tuns ergeben. Und als Lukastiks Schwester einen Mann »fürs Leben« kennenlernte, also einen, mit dem man auch vor aller Welt hofhalten konnte, trennte sie sich von ihrem Bruder, heiratete und ging nach Norddeutschland, wie man in der Zukunft auf den Mond gehen wird. Leider erwies sich der Ehemann als untauglich. Die Schwester ließ sich bald scheiden, wurde Geschäftsfrau, Maklerin mit beträchtlichem Erfolg, kein Monster, keine Heilige, heiratete ein zweites Mal und verlor ihren Gatten bei einem Verkehrsunfall, ohne in diesem Unglück zu ertrinken, blieb kinderlos, ohne sich zu verkrampfen, und ging nach beinahe zwei Jahrzehnten nach Wien zurück, so wie man in der Zukunft – des Mondes müde – auf die Erde zurückkehren wird.
Sie war noch vor ihrem Bruder bei den Eltern eingezogen, und zwar mit einer Selbstverständlichkeit, die an das Schließen eines Kreises erinnerte. Das Maklergeschäft hatte sie aufgegeben und widmete sich einer privatistischen Auffüllung ihrer Stunden und Tage. Sie tat nichts Wesentliches oder gar Leidenschaftliches. Sie verwaltete nicht einmal ihr Vermögen. Das taten andere.
Daß auch ihr Bruder wieder in die Wohnung seiner Jugend gezogen war, hatte sie mit einem Achselzucken kommentiert. Jedenfalls schien das Schließen des Kreises für sie nicht zu bedeuten, das lang zurückliegende Verhältnis erneut aufzunehmen. Dieser Punkt schien erledigt, wie eigentlich die meisten Punkte in ihrem Leben. Genaugenommen wartete sie auf den Tod. Tat aber einiges dafür, daß diese Warterei sie nicht mürbe machte.
Das klingt alles gar nach zackzack und ruckzuck . Aber Lukastiks Schwester würde diese Beschreibung zu schätzen wissen. Sie hielt das Leben für eine Schnellbahn. Man stieg an einer Stelle ein, an einer anderen aus. Dazwischen war man unterwegs. Das war’s auch schon
Für Richard Lukastik lagen die Dinge schwieriger. Natürlich hatte er sich nicht in der elterlichen Wohnung eingemietet, um seiner Schwester nachzusteigen. Auch nicht, um eine Schocktherapie oder etwas ähnliches zu versuchen. Es gab nichts zu besprechen oder zu klären. Und schon gar nicht sollten die unwissenden Eltern eingeweiht werden. Auch war diese Wohnung ja nicht der Ort gewesen, an dem das Geschwisterpaar sich vor langer Zeit in den Armen gelegen hatte. Somit war Lukastik auch nicht der »Täter«, der den Ort seines »Verbrechens« aufsucht. Und doch hatte der Umstand, daß seine Schwester nach zwanzig Jahren »Mond« wieder bei den Eltern lebte, Lukastik dazu animiert, ebenfalls einen Akt der Heimkehr zu vollziehen. Nicht zuletzt, da er sich einsam gefühlt, jedoch niemals den Hafen einer Ehe oder dauerhaften Partnerschaft angelaufen hatte. Beziehungweise ein solcher Hafen seit einiger Zeit auch gar nicht mehr in Sicht gewesen war. Die Familie hingegen, wie er sie nun von neuem erlebte – die im Vorurteil aufblühende Mutter, die im Norden
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