Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
zielsicher die vorletzte Seite aufschlug und sich jenen Punkt 6.5 zu Gemüte führte, den er natürlich wie das meiste – gleich einem geliebten Gedicht – auswendig kannte. Doch zog er es vor, das Geschriebene vor Augen zu haben: den in Zeichen verfestigten und mumifizierten Gedanken.
(»Punkt« war ein persönlicher Terminus Lukastiks, da er Wittgensteins Sätze gewissermaßen als das Ende einer Überlegung empfand, eben als einen Punkt.)
Dieser Punkt 6.5 kulminiert in der Feststellung: Das Rätsel gibt es nicht . Wobei Wittgenstein vorausschickt, daß zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, man auch die Frage nicht aussprechen kann. Was natürlich zur Folge hat, so wiederum die nachgestellte Aussage, daß, wenn sich eine Frage überhaupt stellen läßt, sie auch beantwortet werden kann .
»Das Rätsel gibt es nicht«, murmelte Lukastik mehrmals. Diese Murmelei war weniger ein Gebet als ein wohltuendes Urteil im Angesicht dieses von einem Hai geschändeten Menschenkörpers.
Lukastik schloß das Buch, schob es zurück in die Tasche und sah hinunter auf den Park, in dem es wie auf einen Befehl hin dunkel geworden war. Der rollende Stein war verschwunden, die Frau mit dem Kinderwagen allein. Lukastik wandte sich ab, trat auf die beiden Männer und den Leichnam zu und präsentierte ein fragendes Gesicht.
Slatin hob seine geöffneten Handflächen an, als wiege er darin zwei Zwergkaninchen und sagte: »Eindeutig! Wie ich schon sagte, ein Swan River Whaler. Eine Manipulation halte ich für ausgeschlossen. Wie auch immer es dazu gekommen ist. Was halten Sie eigentlich von der Idee, daß dieser Tote hier das Opfer eines Experiments wurde? Oder im Zuge eines solchen Experiments ungewollt zu Schaden kam? Einer Schlamperei wegen, wie sie ja auch bei Experimenten vorkommen soll.«
»Was für ein Experiment?«
»Ich weiß nicht. Vielleicht werden Haie dieser Art in Wien gehalten, ohne daß die Öffentlichkeit davon weiß. Vielleicht besteht eine geheime Forschung. Der Swan River Whaler, sein Verhalten und sein Körper sind kaum untersucht. Vielleicht meinen ja ein paar Leute, einem Fisch mit einem derart hohen Testosterongehalt auf den Zahn fühlen zu müssen.«
»In Wien?« schüttelte sich Lukastik.
»Mein Gott, warum denn nicht? So ist die Welt nun mal. Alle möglichen Dinge werden an den unmöglichsten Orten erforscht, produziert, konsumiert.«
»Ich denke, es würde auffallen, einen solchen Hai ins Land zu bringen.«
»Nicht im Falle eines Jungtiers«, gab Slatin zu bedenken. »Jungtiere könnte man genausogut als irgendeine Art von Aquariumsfisch deklarieren. Oder als exotischen Speisefisch. Neugeborene Haie bedürfen keiner Brutpflege. Es wäre also durchaus möglich, gleich mehrere Haijungen ohne Brimborium durch den Zoll zu bringen. Ich denke nicht, daß die Ichthyologie eine Domäne der österreichischen Grenzbehörden darstellt. Artenschutz hin oder her. Warum auch sollte überhaupt ein Verdacht entstehen? Haifischschmuggel? Darauf müßte man erst einmal kommen.«
»Und was ist mit der Leiche?« fragte der Chefinspektor und warf einen Blick auf den verunstalteten Leib.
»Ich sagte ja. Vielleicht gab es einen Unfall. Vielleicht hat jemand seine Hand ins falsche Becken gehalten. Vor kurzem ist ein bekannter Haibiologie auf den Bahamas von einem Carcharhinus leucas angegriffen und schwer verletzt worden. Er wollte beweisen, daß Haie nie bei klarem Wasser einen Menschen attackieren. Leider gab es eine Panne beim Füttern, Sand wurde aufgewirbelt und das Wasser trüb, der Fisch biß zu und erwischte dabei unseren mutigen Herrn Experten.«
»Wieder jemand«, sagte Lukastik, »der so dumm war, ins Wasser zu steigen.«
»Genau«, bestätigte Slatin. »Eine unsinnige Forschung. In Wirklichkeit ein Abenteuerspiel für Erwachsene. Die Frage, ob Haie bei klarem Wasser Menschen nicht angreifen, ist völlig unbedeutend, weil der Mensch im Bewußtsein von Haien keine Rolle spielt.«
»Umgekehrt scheint es anders«, sagte Lukastik und erinnerte Slatin daran, daß der Tote nicht auf den Bahamas, sondern im Pool eines Hochhauses gefunden worden war.
»Ein Ablenkungsversuch, denke ich«, zuckte Slatin mit den Schultern. »Das ist ja auch nicht neu, daß Leichen an Plätzen abgelegt werden, die mit dem eigentlichen Unglück nichts zu tun haben. Wer läßt schon seinen ermordeten Ehegatten mitten im Wohnzimmer liegen?«
»Wenige«, stimmte Lukastik zu. Dann fragte er: »Wie steht es eigentlich um das Gehör
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