Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
die entweder nur selten dieses Lokal aufsuchten oder wie im Falle Lukastiks trotz aller Regelmäßigkeit nie in den Zustand der Vertrautheit mit Personal und Besitzer gekommen waren. Das war Lukastik auch recht so. Er trat hier nicht als Kriminalpolizist oder Beinahe Musikwissenschaftler auf, auch nicht als jemand, der Verbindungen besaß, etwa zur Gewerbepolizei, und eventuell das Zudrücken eines Auges bewirken konnte. Nein, Richard Lukastik fungierte an diesem Ort ausschließlich als ein häufiger Gast, der ein spätes Essen bestellte, dazu Mineralwasser, ein Glas Rotwein, hernach einen Kaffee. Hin und wieder blätterte er daneben in einer Tageszeitung, meistens jedoch saß er einfach da und sah, wenn er nicht aß oder trank, in die Luft, hing seinen Gedanken nach oder war auch völlig gedankenlos. Seltener kam es vor, daß er andere Gäste beobachtete. Und zwar gesetzt den Fall, daß es sich nicht gehörte, wegzusehen.
Wenn etwa eine Frau das Lokal betrat, deren Lackstiefel beinahe bis zur Hüfte reichten, so daß eigentlich für die restliche Kleidung, überhaupt für die ganze Person wenig Platz blieb, dann entsprach es den guten Sitten, diese Stiefel einen Augenblick lang zu bemerken und zu betrachten. Und somit etwas zu registrieren, was aus keinem anderen Grund als dem des Gesehenwerdens existierte. Deshalb brauchte man weder in ein Gaffen noch in einen lüsternen Blick zu verfallen oder zu meinen, sich irgend etwas herausnehmen zu dürfen. Aber Hinsehen gehörte sich. Vielleicht sogar ein Hinsehen, in dem ein Zeichen der Anerkennung eingebettet war.
Vom Eingang weg, ging Lukastik stets in den rechten, längeren der beiden Raumabschnitte. Einen bestimmten Platz beanspruchte er nicht. Denn dazu wäre ja ein stammgastartiges Verhältnis nötig gewesen, welches er scheute. Er setzte sich an einen der Tische, die an der Fensterseite aufgestellt waren, stützte seine rechte Hand gegen die Kante und legte den linken Unterarm auf seinem Schenkel ab, so daß sich eine schiefe Haltung und ein deutlicheres Herausquellen seines Bauches ergab. Aber das war nun mal nicht der Ort, an dem sich einem das Verbergen »gebildeter« Körperteile aufdrängte. Schon gar nicht in Momenten bedeutenden Hungers. Und einen solchen verspürte Lukastik, bestellte ein großes Gulasch und eine Portion Sauerkraut.
Er war, wie des öfteren, der letzte essende Gast, als er begann, die Würfel fasrigen Fleisches zu zerteilen, und zwar mit einer Fürsorge, die ein wenig an die konzentrierte Art seines Vaters erinnerte. Zu einem jeden Stück Fleisch, das er mit den Spitzen der Gabel locker aufspießte, schob er auf den freien Teil des Bestecks etwas von dem gekochten, glasigen Kraut. Er aß mit Genuß und Ruhe. Eine Ruhe, die jedoch in dem Moment unterbrochen wurde, als eine Frau in das Lokal trat, die zwar keine Lackstiefel trug, jedoch einen Kinderwagen vor sich herschob, welcher in gewisser Weise das Prinzip der Lackstiefel erfüllte, indem er neben einem verchromten Fahrgestell über ebensolche Speichenräder verfügte. Er schien höher als die üblichen Modelle, ohne deshalb voluminös zu wirken. Geräumig, aber bei aller Geräumigkeit schmal und schnittig. Auch besaß die Wanne, in der das Kind vor Lukastiks Augen verborgen blieb, eine Stoffverkleidung, die einen lackartigen Glanz besaß und des kräftigen Oranges wegen eine Stiefel-Assoziation nicht völlig ungehörig erscheinen ließ. Ein Dach von ebensolchem Material und ebensolcher Farbe war hochgestellt. Von der Kante dieses Dachs baumelte irgendein Stofftier, das mit seinem dunkelgrünen, matten Pelz einen geradezu unterkühlten Eindruck machte. So wie auch die Frau, die den Wagen bloß mit ihren Fingerkuppen anschob, nicht sonderlich auffällig gekleidet war. Allerdings wäre es übertrieben gewesen, sie als Fremdkörper neben diesem Vehikel zu bezeichnen. Sie mochte Mitte zwanzig sein, hatte langes, dunkles Haar und führte ein helles Augenpaar in ihrem modischen, schildartig harten Gesicht. Hätte man sich ihren mittelgroßen, schlanken, aber nicht hüftlosen Körper in einem Kleid von derselben Farbe des Kinderwagens vorstellen müssen, so hätte dies ein taugliches Bild ergeben. Übrigens handelte es sich um ein Orange, das etwas von einem zerstampften Rot besaß. Tatsächlich jedoch trug die Frau einen am Rumpf engen, an den Armen und Beinen zusehends zu Glocken sich ausbreitenden Anzug von beinahe schwarzem Dunkelblau, auf dem sich feine, gelbe Nähte abzeichneten. Der
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