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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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über die Mitte der Brust bis zum Nabel führende Reißverschluß stand ein wenig offen und ließ den dreieckigen Ausschnitt eines weißen Unterhemds erkennen, welchen Lukastik zunächst für die Perlenreihe einer Halskette gehalten hatte.
    Ein Irrtum, der sich rasch aufklärte, da die Frau ebenfalls jenen Teil des Lokals betrat, in dem Lukastik sein Nachtmahl zu sich nahm. Eine Weile stand sie keine zwei Meter von ihm entfernt in der Mitte des Raums, schien unschlüssig, obgleich um diese Zeit, eine dreiviertel Stunde vor dem Schließen, mehrere Tische frei waren. Endlich ließ sie sich auf jener Sitzbank nieder, welche auf der gegenüberliegenden Seite die Wand entlangführte. Den Kinderwagen plazierte sie an der Stelle eines weggeschobenen Stuhls.
    Lukastik mußte nun seinen Kopf zur Seite drehen, um die Frau beobachten zu können. Er tat dies nur kurz und widmete sich gleich wieder seinem Gulasch. Doch fehlte ihm mit einem Mal die Muße, sein Essen in der gewohnten Weise fortzusetzen. Etwas störte ihn. Etwas störte ihn ganz gewaltig. Zunächst einmal der Gedanke, daß es sich bei dieser Frau um dieselbe handelte, welche er im Park unterhalb von Dr. Pauls Studierstube gesehen hatte. Allerdings fand er selbst, daß es sich bei dieser Annahme um eine an den Haaren herbeigezogene handelte. Die Frau im Park war an die hundert Meter entfernt gewesen. Auch hatte er sich gar nicht bemüht gehabt, Details auszumachen. Warum hätte er das auch tun sollen? So war ihm also von Dr. Pauls Fenster aus nicht etwa das Orange eines Kinderwagens ins Auge gestochen, so wie dies jetzt der Fall war. Auch lag zwischen den beiden Orten, zwischen Studierstube und Sittl, eine Distanz, die sich kaum für einen Spaziergang eignete. Es gab somit kein vernünftiges Argument für die Mutmaßung, daß diese Frau hier, die sich jetzt eine Zigarette anzündete, mit jener aus dem Park identisch sein sollte.
    Vernünftig hingegen mutet der Ärger an, den Lukastik darüber empfand, daß diese Frau und Mutter rauchte. Das gehörte sich ganz einfach nicht. Sie tat dies auch in keiner Weise verschämt, trug also nicht einmal ein schlechtes Gewissen zur Schau, sondern inhalierte mit Genuß. Zwar ging sie nicht so weit, den Rauch in Richtung des Kinderwagens zu blasen, verhielt sich jedoch unbesorgt und gelassen. Andererseits entsprach sie nicht unbedingt dem Typ einer verkommenen Mutter. Ihr gepflegtes Äußeres, erst recht das gepflegte Äußere dieses Kinderwagens wirkten vorbildhaft. Weit weniger vorbildhaft waren Ort und Zeit. Eineinhalb Stunden vor Mitternacht herrschten im Sittl beileibe nicht die Luftverhältnisse, die einem Säugling entgegenkamen. Das dachte zumindest Lukastik, der sich mit Nikotin auskannte, allerdings von Kleinkindern wenig Ahnung hatte. Diese dickwangigen Wesen in ihren Wagen und Wiegen, die an Brüsten oder Gummisaugern hingen wie an einer kosmischen Nabelschnur, waren ihm unheimlich. Die viele Zeit, die sie verschliefen, erschien ihm als ein Zeichen ihres Fremdseins in dieser Welt. Eines grundsätzlichen Fremdseins, einer stillen Verachtung der Wirklichkeit.
    Aber es war wohl nicht das Rauchen allein, woran sich Lukastik rieb. Auch nicht die Tasse Kaffee, welche die Frau – die ja möglicherweise noch stillte – sich servieren ließ. Da war noch etwas anderes. Es schien eine Parallele zwischen der Frau hier und jener im Park zu bestehen. Eine Parallele, die sich Lukastik mehr aufdrängte, als daß er sie feststellte. Und die über das Faktum spazierender Mütter und geschobener Kinderwägen hinausging. So weit hinausging, daß sich Lukastik außerstande sah, diese Entsprechung zu benennen. Ein bloßes Gefühl. Ungreifbar. Um so lästiger.
    Aus seiner Ruhe gebracht, beendete der Chefinspektor vorzeitig seine Mahlzeit. Was ihm unangenehm war. Es entsprach nicht seiner Art, etwas stehenzulassen. Schon, weil es ihm mißfiel, sich erklären zu müssen. Und sei es nur mittels einer Geste, die besagte, daß es nicht am Essen gelegen hatte.
    Während jetzt sein Teller abserviert wurde, wich er einem möglichen fragenden Blick der Kellnerin aus, welche freilich völlig desinteressiert war an den Gründen, die Lukastik abgehalten hatten, sein Gulasch aufzuessen. Sie tat allein, was sie tun sollte, und stellte ein paar Minuten später die obligate Tasse Mokka vor Lukastik auf den Tisch. Lukastik dankte, nahm einen Schluck und zog schließlich Wittgensteins Tractatus aus der Außentasche seines Jacketts. Noch einmal sah er

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