Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
bröckelte und splitterte, dann wieder konnte man meinen, daß die Stimmen einzelner Instrumente wie kleine Eruptionen aus Löchern aufstiegen, eine Weile in der Luft standen, rein und sauber und stechend, um bald wieder im Boden zu verschwinden. Es wurde BWV 1006 gespielt, keine Frage, nicht eine einzige Phrase mutete neu an. Und dennoch besaß diese Musik eine vollkommene Eigenständigkeit, als sei das Bachsche Präludium gerade erst erfunden worden. Wie man Maschinen erfindet oder neue Sprachen. Stets auf der Basis alter Maschinen und alter Sprachen.
Dieses ganze musikalische Ding wirkte so aktuell wie historisch. Gleich einem lebenden Fossil. Wobei nie das gesamte Orchester zu vernehmen war, immer nur einzelne Instrumente oder Instrumentengruppen. Sie kamen und gingen, als befinde man sich in einer tönenden Pfandleihanstalt. Mitunter entstand ein eher diffuses Rauschen, dann aber wurde das Präludium so überaus deutlich erkennbar, daß es das Original an Klarheit übertraf, die Wirklichkeit der Bachschen Komposition ins Hyperrealistische, ins blendend Scharfe steigerte. Gleich darauf mutete die Musik wieder wie ein pures Durcheinander an, ein bloßer Klangsalat, den ein dirigentenloser Sauhaufen veranstaltete.
Vom Fehlen eines Dirigenten konnte freilich nicht die Rede sein. Es gab nur wenige Beispiele in der Musikgeschichte, in denen der Kerl mit dem Taktstock eine derart wichtige, weil absolut notwendige Rolle spielte.
Lukastik erinnerte sich. Nicht augenblicklich – zu überraschend war diese Musik an sein Ohr gedrungen –, aber doch recht bald. Noch als Student hatte er anläßlich der Aufführung zeitgenössischer Musik die Komposition eines Amerikaners namens Lukas Foss gehört, von der er hingerissen gewesen war. Dieses Stück bestand gewissermaßen aus einer einzigen, umwerfenden Idee, von der Foss behauptete, sie einem Traum zu verdanken.
(Daß es der Herr den Seinen im Schlaf gibt, war schon immer Richard Lukastiks Meinung gewesen. Den sogenannten Fleiß, auf den sich große Künstler und brillante Forscher gerne beriefen, hielt er für eine Koketterie. Die meisten von diesen Leuten legten sich ganz einfach schlafen, und wenn sie in der Früh erwachten, steckte ihnen eine geniale Idee im Schädel. So wie den Minderbegabten die Tageszeitung im Briefschlitz.)
Auch dieser Lukas Foss war der Einfachheit halber zu Bett gegangen, um im Zuge seines Schlafs von »Strömen« barocker Sechzehntelnoten zu träumen, die, von den Wellen des Meers getragen, an Land gespült werden und schließlich im Sand versickern. Und zwar in einer fortlaufenden Tour, wie das bei Meeren und Stränden so der Fall ist.
Am nächsten Morgen war Foss wie selbstverständlich die Idee gekommen, diesen Traum in eine Komposition zu verwandeln. Wobei er sich, der barocken Sechzehntel wegen, auf das Bachsche Präludium gestürzt hatte, ohne aber eine Verjazzung zu kreieren oder etwas ähnlich Banales zu versuchen. Vielmehr war er so konsequent und gleichzeitig rücksichtsvoll gewesen, das Original im Grunde unberührt zu lassen.
Er wies also das Orchester an, sich streng an die Bachsche Partitur zu halten. Einerseits. Andererseits waren die Musiker verpflichtet, unhörbar zu spielen, lautlos im Sinne des menschlichen Ohrs. Es war, als musiziere man für Fledermäuse oder Tiefseefische, denen es gleich sein konnte, ob da etwas erklang. Erst wenn der Dirigent einem bestimmten Instrument oder einer bestimmten Instrumentengruppe ein Zeichen zum Einsatz gab, wurde das Spiel in den Zustand publikumsgerechter Lautstärke erhoben, jedoch auch nur so lange, bis der Dirigent wieder abwinkte. Auftauchen, tanzen, versickern.
Selbstherrlicher konnten ein Komponist und sein Dirigent gar nicht verfahren. Das Orchester steckte in diesem Stück quasi wie in Geiselhaft, schlimmer noch, wie jemand, dessen Kopf im Zuge einer Folter unter Wasser gehalten und zum kurzen Luftschöpfen nach oben gezogen wird. Wobei der Dirigent, wenn er da einen Kopf an den Haaren in die Höhe und aus dem Wasser riß, selbst nicht wissen konnte, an welcher Stelle von Bachs Präludium sich das Instrument gerade befand.
Nie wieder war Lukastik die Musik Bachs so authentisch erschienen wie in dieser Komposition von Lukas Foss. Tatsächlich mutete das Klangstück an, als komme es direkt aus einer lang zurückliegenden Vergangenheit, als sei es nur noch in Partikeln vorhanden, unrestauriert wie ein altes, von Rissen und Abblätterungen entstelltes Gemälde. Entstellt, aber
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