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Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische

Titel: Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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vereinzelt angebrachter, langer Leinenbahnen gedämpfte Licht umgab die meisten Gegenstände mit einem wolkigen Schleier. Für einen Moment empfand Lukastik einen leichten Taumel, was wohl vom Geruch herrührte, der ihn augenblicklich umfangen hielt, so eine Art Weihnachtsduft. Der Geruch von Lebkuchenherzen. Jene großen, schmucken Herzen, die wie Mühlsteine an den Hälsen der Menschen hingen.
    Vom Schwindel erfaßt, ließ sich Lukastik auf einem Stuhl nieder, wobei er trotz aller Benommenheit registrierte, wie sein Bauch merklich herausgedrückt wurde, während der obere Abschnitt seines Rückens nachfederte und ein unnatürlich hohes Gewicht annahm. Er griff sich an die Augen und massierte die geschlossene Lider. Das Bild seiner Schwester drängte sich ihm auf. Hin und wieder geschah es, daß er unvermutet an sie denken mußte, wie man sich grundlos eines Verstorbenen erinnert und dabei zu überlegen beginnt, wie selten das in letzter Zeit vorgekommen ist. Und daß man wohl irgendwann aufhören wird, einen Gedanken an diese tote Person zu verschwenden.
    Er benötigte eine halbe Minute, dann war er soweit wieder gediehen, daß sich die Erscheinung seiner Schwester verflüchtigte und sein Rücken in die alte Gewichtsklasse zurückfiel. An seinem Bauch allerdings war natürlich nichts zu ändern. Lukastik erhob sich also mitsamt seiner »zentralen Beule« und folgte einem Schild hinauf ins erste Stockwerk, wo er an eine Tür klopfte, die ins Büro jener Frau führte, die – laut der Aufschrift – medizinisch wie auch kaufmännisch dieses Haus leitete.
    »Ja, bitte!« war eine Stimme zu vernehmen, die angesichts der Kombination von Heilkunde und Ökonomie erstaunlich milde klang.
    Was hatte sich Lukastik erwartet? Eine Furie? Ein Monster? Oder zumindest eine raumgreifende Gestalt vom Schlage Beduzzis?
    Nun, bei Frau Dr. Gindler handelte es sich um eine zierliche, aber nicht fragile Person, die um die fünfzig sein mochte und deren halblang geschnittenes, glattes Haar über ein dunkles, blaustichiges Grau verfügte, in dem einzelne weiße Haare gleich geographischen Längen herausstachen.
    In Gindlers Gesicht schien sich die eigene Jugend konserviert zu haben, nur, daß man eben das Konservierte bemerkte, wie man ja auch im Falle eines erwachsenen Zwerges niemals auf die Idee käme, ihn mit einem Kind zu verwechseln. Dr. Gindler besaß überaus feine, gerade Züge. Allerdings fehlte ein kleiner Kontrapunkt, der diesem Gesicht eine persönliche Note verliehen hätte. Was sich ebensowenig aus der randlosen Brille wie aus dem strengen Kostüm ergab, welches die Schlankheit ihres Körpers zwar nicht verheimlichte, aber auch nicht herausstellte. Dennoch existierte eine solche persönliche Note. Und zwar dadurch, daß Dr. Gindler die Eigenart praktizierte, beim Sprechen einen Finger an die Wange zu legen, ein wenig wie Lukastik den seinen an die geschlossenen Lippen führte, wenn er einen neuen Raum betrat. Was natürlich auch jetzt geschah. So flüchtig, daß Dr. Gindler es nicht bemerkte, während sie selbst ihren Finger ja so lange an der Wange ließ, wie sie etwas zu sagen hatte. Woraus sich der Eindruck ergab, dieser Finger würde gleich dem Tonarm eines Plattenspielers funktionieren.
    Ihr Tick mutete in keiner Weise komisch an, eher wirkte er attraktiv. Er unterstrich das Gesagte, gab dem Gesagten Würde und Bedeutung, so wie es ja auch um einiges würdevoller aussieht, eine Platte aufzulegen als einen CD-Player zu bedienen.
    Der hohe Raum wurde von der in Quadrate unterteilten gläsernen Außenfront dominiert, welche die gesamte Rückseite ausfüllte. Die übrigen Wände waren weiß getüncht und kamen ohne jede Schmückung aus. Eine solche ergab sich allein durch den monumentalen Teppich, dessen Musterung aus einer linearen Aneinanderreihung kleiner Farbfelder bestand. Der Teppich rechtfertigte gewissermaßen die Größe des Raums. Man hätte darauf eine Kuh schlachten oder ein Badmintonspiel abhalten können. Doch er lag völlig unberührt da, von keinem Sessel oder Tisch tangiert, und auch Lukastik scheute sich zunächst davor, ihn zu betreten. Als er es dann doch tat, kam ihm das vor, als laufe er über Wasser oder Luft oder zumindest über ein auf dem Boden aufliegendes Gemälde.
    Dr. Gindler trat hinter ihrem mit Stößen von Papier und Büchern dekorierten Schreibtisch hervor, reichte Lukastik die Hand – wobei sie ihn mit Namen und Dienstrang ansprach – und bat ihn, auf einem der Sessel Platz zu

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