Richard Lukastik Bd. 1 - Nervöse Fische
Moment lang Schulphantasien aufkommen.
Es lag eine große Erleichterung darin, das Foyer des Hotels zu betreten. Einmal, weil das Dahinschreiten auf dem dunkelroten Teppichboden ein weitaus angenehmeres war und die daraus resultierenden Phantasien in viel tröstlichere Regionen führten, als sie sich aus dem Besuch einer Schule ergaben. Dazu kam, daß eine erträgliche Temperatur in dem weiten, aber niedrigen Raum herrschte, dessen Einrichtung im Widerspruch zum ländlichen Charakter der hölzernen Außenhaut stand. Die Säulen, Spiegel, Stehlampen und abstrakten Bilder hätten viel eher zu einer städtischen Umgebung gepaßt. Aber wie auch im Falle der Flaggen schien man hier auf den Anspruch zu pochen, mit der großen, weiten Welt verbunden zu sein. Selber als ein Teil dieser Welt zu fungieren. Entlegen, aber kein Hinterwald.
Lukastik wies Kosáry an, sich kurz in einen der schwarzen Lederfauteuils zu setzen, die wie kleine, dunkle Felsen über den Raum verteilt standen. In einigen davon ruhten Personen, hingestreckt, bewegungslos. Man hätte sie für abgelegte Mäntel halten können.
»Sie wollen mich nicht dabeihaben«, stellte Kosáry fest.
»Ich will Sie nicht dabeihaben, richtig«, bestätigte Lukastik und wartete, bis sich Kosáry einen der Felsen ausgesucht hatte. Dann trat er an die Rezeption, die von einer einzigen jungen, müde dreinblickenden Frau bedient wurde.
Lukastik zeigte seinen Ausweis und erkundigte sich, ob ein gewisser Egon Sternbach im Hotel abgestiegen sei.
Die Rezeptionistin schien bemüht, ihre Schläfrigkeit abzuschütteln, und sagte: »Frau Dr. Gindler erwartet Sie bereits.«
»Was soll das?« ärgerte sich Lukastik. »Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Ich bin hier nur angestellt, Herr Chefinspektor. Ich weiß nichts von einem Herrn Sternbach. Ich weiß nur, daß ich Sie ins Büro der Frau Doktor bitten soll.«
»Verwunderlich«, sprach Lukastik mehr zu sich selbst, »wenn man bedenkt, daß ich bis vor kurzem noch gar keine Ahnung von dieser merkwürdigen Idylle hatte.«
Die Angestellte machte ein gelangweiltes Gesicht. Es war nicht ihre Aufgabe, sich um fremde Mysterien zu kümmern.
Lukastik wollte nun wissen, welche Funktion Dr. Gindler innehatte.
»Sie ist die Leiterin des Sanatoriums. Ihr Büro liegt im hintersten Gebäude. Das Zimmer ist angeschrieben. Sie können es gar nicht verfehlen. Ich kann Ihnen aber auch jemand …«
»Nicht nötig«, wehrte Lukastik ab.
Dann überließ er die Rezeptionistin wieder ihrem nachmittäglichen Schlummer. Einem Schlummer, dem er sich selbst gerne hingegeben hätte. Und dem auch Esther Kosáry bereits erlegen schien. Sie saß tief versunken in ihrem Fauteuil und hatte die Augen geschlossen. Es war nicht zu sagen, ob sie schlief oder bloß in irgendeinem halbtoten Gedanken vor sich hin tümpelte. Jedenfalls sah Lukastik keinen Grund, sie zu stören. Ohnehin war es das beste, wenn er sie hier zurückließ. In der Geborgenheit eines Armstuhls, der ihren schmächtigen Körper gleich einem dickwandigen Gefäß umgab.
Lukastik trat aus der Halle und folgte einem der Gehwege, die das wiesenreiche Gelände in großer Anzahl zergliederten, so daß man das Gefühl bekommen konnte, sich auf dem Muster eines Schnittbogens zu bewegen. Es war keineswegs einfach, den kürzesten Weg zu erkennen, um an einen bestimmten Punkt zu gelangen. Aber die Kürze von Verbindungen stellte an diesem Ort wohl kaum eine Prämisse dar. Im Gegenteil. Wahrscheinlich bevorzugten die Benutzer dieser Pfade eine gewisse Umständlichkeit, um dem Überangebot an Zeit Herr zu werden. Kurorte waren geradezu Brutstätten der Zeit. Eine jede Sekunde und Minute wog doppelt so schwer wie anderswo.
Nun, auch Lukastik sah keinen Grund, sich zu beeilen. Sternbach schien ihm nicht davonzulaufen. Gar nichts schien ihm davonzulaufen. Es war jetzt mehr ein Flanieren in der Hitze, das er praktizierte und sich vorbei am ersten Klinikgebäude dem zweiten näherte. Es verfügte über eine hohe, gläserne, von einem dünnen Metallgeflecht strukturierte Front, in der sich der Himmel stückchenweise spiegelte und etwas vom archäologischen Reiz einer zerbrochenen und wieder zusammengesetzten Keramik besaß.
Lukastik betrat den Bau, der auf der Rückseite ein bis zum Boden führendes Dach besaß, vergleichbar einem Helm, der über den Nacken seines Trägers reicht. Entgegen dieses brachialen Eindrucks herrschte im Inneren eine betont therapeutische Atmosphäre. Das mittels
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