Richter 07
seinem Blick aus. Die Augen auf den gestampften Erdboden geheftet, fuhr er fort:
»Euer Sohn erwähnte in seinem Brief mit Recht Euren unbezwingbaren Mut, Dr. Li. Ihr wart unheilbar krank, und Euer Reichtum war dahingeschwunden. Aber Euer Sohn war Euch noch geblieben. Aus ihm wolltet Ihr einen großen Mann machen, und recht schnell dazu. Paradiesinsel, die von Gold überfließende Schatzkammer, lag an der Grenze Eures Landes. Zuerst schicktet Ihr Eure Straßenräuber aus, um Fengs Goldtransport auszurauben, doch er war zu gut bewacht. Ihr hattet Eurem Sohn erzählt, daß der Kunsthändler Wen Yüan den Vorsteher Feng haßte und aus seinem Amt vertreiben wollte. Und Ihr befahlt Eurem Sohn, Verbindung aufzunehmen mit Wen und das Komplott in die Tat umzusetzen, wodurch Feng in Schande entlassen werden sollte. Euer Sohn sollte hierauf veranlassen, daß Wen anstelle von Feng zum Amtsvorsteher ernannt würde, und sobald dies geschehen wäre, hätte Euer Sohn durch Wen an die Reichtümer der Insel herankönnen. Der Tod Eures Sohnes vereitelte alle diese Pläne.
Wir sind uns nie persönlich begegnet, Dr. Li, aber Ihr kanntet meinen Ruf, so wie ich den Euren kannte. Ihr hattet Furcht, ich würde hinter Eure Schliche kommen. Nachdem Ihr die Blumenkönigin getötet hattet, kehrtet Ihr zum Roten Pavillon zurück. Ihr standet eine Zeitlang auf der Veranda und beobachtetet mich durch das vergitterte Fenster. Eure nichtswürdige Gegenwart verursachte mir einen bösen Traum. Ihr konntet nichts machen, weil ich zu weit vom Fenster entfernt dalag und außerdem die Zimmertür verbarrikadiert hatte.«
Er blickte auf. Das Gesicht des Aussätzigen hatte sich in eine grausig verzerrte Maske gewandelt. Der faulige Geruch in dem kleinen Raum hatte stark zugenommen. Der Richter zog sein Halstuch vor Mund und Nase und sprach hindurch:
»Danach versuchtet Ihr, die Insel zu verlassen, doch die Bootsleute wollten Euch nicht mitnehmen. Vermutlich wolltet Ihr Euch im dichten Busch der Ufergegend verstecken, und dort wird es wohl gewesen sein, daß Ihr Jadegrün, ganz zufällig, nach dreißig Jahren in den Weg lieft. Ihr erkanntet sie an ihrer Stimme, vermute ich. Sie warnte Euch vor mir, denn sie wußte ja, daß ich Nachforschungen anstellte über Tau Kwangs Tod. Was veranlaßte Euch, so zäh am Leben zu hängen, das nur Grauen und Elend für Euch bereit hielt, Dr. Li? Wart Ihr entschlossen, Euren hohen Ruf um jeden Preis aufrechtzuerhalten? Oder war es Treue zu der Frau, die Ihr vor dreißig Jahren geliebt und längst tot geglaubt hattet? Oder die böse Lust, immerdar und über alles zu triumphieren? Ich weiß nicht, wie eine unheilbare Krankheit auf einen großen Geist einwirkt.« Da keine Antwort kam, fuhr Richter Di fort: »Gestern nachmittag spürtet Ihr mir wieder nach, das dritte Mal. Ich hätte es erkennen sollen an dem untrüglichen Geruch. Ihr hörtet mich zu meinem Gehilfen sagen, daß ich hierher käme. Sofort holtet Ihr Eure gedungenen Mörder herbei. Ihr befahlt Ihnen, sich in den Hinterhalt unter den hohen Bäumen zu legen, mich zu überfallen und zu töten. Ihr konntet nicht wissen, daß ich meine Pläne änderte, nachdem ich ins Wohnzimmer gegangen war. An meiner Stelle überfielen nun Eure Leute meinen Gehilfen und die beiden Männer des Vorstehers. Eure Handlanger wurden sämtlich erschlagen, aber einer von ihnen verriet Euren Namen, bevor er starb.
Nachdem ich den Brief Eures Sohnes gelesen hatte, wurde mir plötzlich alles klar. Ich wußte, wie Ihr gewesen wart, Dr. Li. Ein verwegener junger Beamter, so beschrieb Euch Feng, wart Ihr vor dreißig Jahren gewesen. Und Jadegrün schilderte Euch auch so, als sie mir von einem Liebhaber sprach, einem Mann von wildem, unwiderstehlichem Wesen, der, wenn es der Zufall wollte, imstande war, alles von sich zu werfen: Reichtum, Stellung, kurz alles, was er besaß – für das Weib, das er liebte.«
»Ja, das warst du, Liebster!« sprach die Frau verzückt. »Das warst du, mein schöner, stürmischer Geliebter!«
Sie bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
Richter Di schaute weg. Mit müder Stimme sagte er:
»Von unheilbarer Krankheit heimgesuchte Personen stehen außerhalb des Gesetzes, Dr. Li. Ich möchte hier nur feststellen, daß Ihr den Mord an der Kurtisane Herbstmond im Roten Pavillon begingt, ebenso wie den an Tau Kwang vor dreißig Jahren.«
»Vor dreißig Jahren!« ließ sich die wunderbare Stimme vernehmen. »Nach allen diesen Jahren sind wir wieder vereint! Diese Jahre sind
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