Rico, Oskar und der Diebstahlstein
ganzes Jahr kennen und sich trotzdem nur halb duzen. Andererseits, bei so einem merkwürdigen Namen â¦
»Ludger?«, wiederholte ich. »So kann man heiÃen?«
Ich fand den Namen wirklich merkwürdig. AuÃerdem stand der van Scherten viel zu nah am Teller mit den Müffelchen, also tat ihm etwas Ablenkung sicher gut. Früher ist er Lehrer gewesen, und Lehrer drehen normalerweise vor Freude sofort durch, wenn man ihnen eine Frage stellt.
»Kann man«, legte der van Scherten los. »Der Name ist eine Ableitung von Luitger , setzt sich also aus luit und ger zusammen, den althochdeutschen Wörtern für Volk und Speer .«
Na bitte!
»Er bezeichnet also einen Kämpfer aus dem Volk beziehungsweise, im weitesten Sinne, einen gemeinen Soldaten.«
Eins weià ich inzwischen: Man sollte nie denken, dass es für jedes Wort ein Gegenteilwort gibt. Deshalb fragte ich gar nicht erst, ob es auch neutiefdeutsche Wörter gab.
»HeiÃt Rico auch was?« Ich fischte unauffällig nach einem Müffelchen. Es lag so nah am Tellerrand, dass der van Scherten sich bloà bücken und die Hand danach ausstrecken musste. »Frederico, meine ich?«
»Selbstverständlich. Ist übrigens die portugiesische Form deines Namens, nicht die italienische. Das wäre Fe derico. Grund?«
»Keine Ahnung. Mama hat bestimmt gedacht, das wäre italienisch«, sagte ich mit Lachs und Sahnemeerrettich drauf im Mund. »Als ich zur Welt kam, war sie vor Papa längst abgehauen, sie hätte mir also genauso gut einen deutschen Namen geben können. Aber sie ist eher der italienische Typ. Sie mag zum Beispiel Pizza viel lieber als Schnitzel.«
»Eh ⦠ja«, sagte der van Scherten. »Also, wenn deine Mama eher der Schnitzeltyp wäre, würdest du jetzt Friedrich heiÃen. Und das bedeutet, frei übertragen, so viel wie âºder Mächtigeâ¹ oder, etwas genauer, âºFriedensherrscherâ¹.«
Fast hätte ich vergessen runterzuschlucken. Einen langweiligeren Namen konnte man ja wohl kaum haben! Da half es auch nicht, dass ich der Herrscher war und der van Scherten nur ein abgeleiteter Gemeiner im weitesten Sinne mit einem Speer aus dem Volk.
»Könnte Rico nicht auch was anderes heiÃen?«
»Nur, wenn man das Wort bewusst falsch ableitet. WeiÃt du, was das italienische Verb ricordare bedeutet?«
Italienisch kann ich noch weniger als Russisch, und was ein Verb war, wusste ich auch nicht. Weil ein Halbitaliener sich das aber unmöglich anmerken lassen kann, winkte ich so lässig wie möglich ab. »Klar. Ricordare. Das Verb. Hatte ich gar nicht dran gedacht.«
VERB
: Wort für Dinge, die man tut, deshalb heiÃt es auch Tuwort . Zum Beispiel schlafen, stehen, sitzen. Das Getue kann man zusätzlich noch beugen, das nennt man dann Grammatik, und die ist kompliziert, denn beim Schlafen, Stehen, Sitzen tut man ja gar nichts, schon gar nichts mit Verbeugungen. Es müsste also eigentlich Lasswort heiÃen, aber das ist leider auch so ein Gegenteilwort, das es nicht gibt.
Gott sei Dank kam, bevor der van Scherten weiter rumverben konnte, Frau Dahling ins Wohnzimmer, in ihrem hübschen Blümchenkleid, an dem man ihre Speckfalten sehen kann, und mit einem Nachschubteller voller Müffelchen. Beides sah groÃartig aus.
Zwei Minuten später waren Oskar und ich mit den Müffelchen allein. Oskar hatte sich zum Abschied gerade mal ein Tschüss abgerungen. Sein erstes Wort heute Abend, seit wir hier waren.
»Okay«, sagte ich, »was ist los mit dir?«
Die Antwort kam so schnell, wie ein Korken aus einer Sektflasche ploppt. Als hätte Oskar die ganze Zeit nur darauf gewartet, endlich seinem Ãrger Luft machen zu können, nur dass er keine Erwachsenen dabeihaben wollte.
»Ich bin sauer.«
»Auf Lars.«
Er verschränkte die Arme. »Auf das Schicksal. Von allen Blödmännern auf der Welt habe ich ausgerechnet den blödesten als Vater gekriegt. Das ist ungerecht.«
»Ich hab gar keinen.«
»Sei froh. Ich wünschte, meiner wäre auch tot.«
PÃNG! Ich finde, von allen schlimmen Sätzen auf der Welt, die man nie sagen und nie hören sollte, ist Ich wünschte, du wärst tot einer der schlimmsten. Schlimmer ist nur noch Der Kühlschrank ist alle, und der Spätkauf hat schon zu.
»Denkst du, Lars hat dich nicht lieb?«
»Klar hat er mich lieb. Aber
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