Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rico, Oskar und der Diebstahlstein

Rico, Oskar und der Diebstahlstein

Titel: Rico, Oskar und der Diebstahlstein Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
Vom Netzwerk:
waren, und genoss einfach nur das Gefühl, ohne mich viel zu bewegen, wahnsinnig schnell vorwärtszukommen. Es mischte sich noch ein anderes gutes Gefühl dazu: Ich war noch nie so weit weg von Berlin gewesen, weder allein noch mit jemand zusammen. Normalerweise hätte ich mindestens so aufgeregt sein müssen wie ein Seefahrer, der losgesegelt war, um einen neuen Kontinent zu entdecken. Aber die Bingotrommel gab keinen Mucks von sich.
    KONTINENT
: Abgeschlossener Erdteil. Schwimmt entweder einsam und allein im Ozean rum, wie Australien und die Antarktis, oder er mag Gesellschaft, dann pappt er an einem anderen dran, wie Europa an Asien. Es gibt auch Inkontinente, das sind Leute, die ihr Pipi nicht halten können, weder allein noch in Gesellschaft. Sie müssen also immer frische Unterwäsche dabeihaben, ob sie nun reisen oder nicht.
    Am Ende des zweiten Wagens war ein kompletter Tisch mit vier Plätzen frei. Das wär’s gewesen, dachte ich, für ein hübsches Päuschen, aber nee, wir waren ja auf der Flucht. Am Nebentisch saß ein stoppelhaariger blonder Junge mit seinen stoppelhaarigen blonden Eltern. Die Mutter knipste ab und zu ein Foto zum Fenster raus. Der Vater pulte in einer Tupperdose zwischen zerschnibbelten Tomaten und Paprika rum. Er sah so spindeldünn aus, als hätte er sich sein Leben lang von nichts anderem ernährt. Der Junge las in einem Bilderbuch, aber als Oskar und ich uns näherten, hob er den Kopf, als hätte er uns gespürt. Er schaute mich an, kniff die Augen zusammen und riss sie sofort überrascht wieder auf.
    Ich war mindestens genauso verblüfft wie er. Diesen Jungen hätte ich zwischen tausend anderen wiedererkannt. Seine Augen waren von einem so wässrigen hellen Blau, wie etwas nur hellblau sein kann. Sie sahen aus, als könnten Marienkäfer darin baden.
    Â»Ist ja wohl der Hammer!«, sagte ich zu Oskar. »Das ist Sven!«
    Â»Welcher Sven?«
    Â»Der aus Tempelhof. Der gehörlose.«
    Ich hatte Sven letztes Jahr auf der Suche nach der kleinen Sophia kennengelernt, die mir wegen Oskars Entführung weiterhelfen sollte. Er hatte mit einem älteren Jungen auf einem Spielplatz gesessen – Felix. Der hatte gewusst, wo Sophia wohnte, ohne ihn hätte ich sie nie gefunden. Felix wollte Schriftsteller werden und dachte sich Geschichten aus, die er Sven erzählte, ganz ohne Gebärden, weshalb ich nicht verstanden hatte, wie ein Gehörloser die hören sollte.
    Sven hob den Ellbogen hoch, machte mit der flachen Hand eine winkende Bewegung von einer Seite zur andern, und sein Mund formte dabei ein Hallo! Seine Eltern schauten erstaunt auf. Der Vater nahm die Hand aus der Tupperdose.
    Â»Hallo, Sven!«, sagte ich.
    Das konnte er nicht hören, aber er konnte es sehen, und darum ging’s. Viele Gehörlose können nämlich total gut Lippen lesen. Nicht alle, weil das nicht so einfach ist, denn viele Wörter sehen gleich aus, wenn sie ausgesprochen werden, wie Mutter und Butter, und da merkt man erst beim Frühstück, dass Gibst du mir mal bitte die Mutter rüber? nicht wirklich passt. Weiß ich alles aus dem Förderzentrum, wo ab und zu auch mal Gehörlose aufkreuzen. Ein paar von ihnen lernen oder denken nämlich etwas langsamer, weil Gehörlosigkeit eine Folge von anderen fiesen Krankheiten sein kann, oder sie kriegen es mit dem gleichzeitigen Bewegen vom Mund und den Händen nicht gut hin. Natürlich sind auch welche dabei – aber das darf man im Förderzentrum nicht laut sagen, schon gar nicht vor dem Wehmeyer –, die sind dermaßen panne und obertiefbegabt, dass sie Mutter und Butter noch in hundert Jahren durcheinanderbringen würden.  
    Svens Butter legte den Fotoapparat ab, schaute fragend zwischen uns hin und her, und Sven fing an zu gebärden, und sie gebärdete zurück und sprach gleichzeitig auf ihn ein, mit überdeutlichen Mundbewegungen.
    Â»Wer wurde entführt? Felix? Nee, nicht Felix – welcher Spielplatz? Kind, mach doch mal langsamer! … Zweitausend … was?«
    Es war ein einziges Durcheinander aus fliegenden Händen und Armen, das Sven, wenn es ein Wettkampf gewesen wäre, locker gewonnen hätte. Er war beeindruckend schnell. Er war der hochbegabteste Tiefbegabte, den ich je getroffen hatte.
    Irgendwann verdrehte sein Vater genervt die Augen und fing auch noch an, durch die Gegend zu wedeln. »So

Weitere Kostenlose Bücher