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Rico, Oskar und die Tieferschatten

Rico, Oskar und die Tieferschatten

Titel: Rico, Oskar und die Tieferschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Steinhöfel
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2000 persönlich, der cleverste Entführer aller Zeiten!
    Wenn der dich erwischt, schneidet er dir zuerst die Ohren ab.«
    »Sagt wer?«
    »Sage ich. Sie schneiden immer zuerst die Ohren ab.«
    Das hatte ich nicht gewusst.
    »Danach eine Hand! Und dann, wenn er immer noch keine Kohle gekriegt hat, den dazugehörigen Arm. Den anderen Arm muss er vorerst dranlassen, damit du noch einen Bettelbrief an deine Eltern schreiben kannst, verstehst du? Also nimmt er sich als Nächstes die Beine vor.«
    »Findest du das nicht etwas übertrieben?«
    Er schüttelte den Kopf, und seine braunen Haare wurden noch unordentlicher. »Ich will mal Schriftsteller werden. Schriftsteller übertreiben immer, hast du das nicht gewusst?«
    »Ich lese nur Comics.«
    »Da wird erst recht übertrieben.«
    Es war schwierig, ihm auf den Fersen zu bleiben. Er machte schrecklich große Schritte. »Und, hast du schon was geschrieben?«
    »Jede Menge.«
    »Ist es gut?«
    »Das musst du Sven fragen.«
    »Wer ist Sven?«
    »Na, wer wohl?«
    Der Stoppelkopf an seiner Seite gab immer noch keinen Mucks von sich. Er musste doppelt so viele Schritte machen wie Felix, aber er trabte neben ihm her, als wäre er mit einem unsichtbaren Seil an ihm festgebunden.
    »Ihm erzähle ich meine neuen Ideen«, sagte Felix. »Wenn er eine Geschichte gut findet, schreibe ich sie auf. Vorher nicht.«
    Das war es wohl, wobei ich ihn gestört hatte. Er hatte Sven seine neueste Geschichte erzählt. Ich hob eine Hand und winkte dem Stoppelkopf zu. »Hallo Sven.«
    Keine Antwort. Sven sah mich nicht mal an.
    »Er kann dich nicht hören«, sagte Felix. »Er kann auch nicht sprechen. Ist taubstumm.«
    »Man sagt nicht taubstumm. Es heißt gehörlos.« Das wusste ich aus dem Förderzentrum.
    »Mir egal, wie es heißt.« Felix ging immer schneller, den Blick schnurgeradeaus gerichtet. »Hauptsache, mir hört einer zu.«
    Das mehrstöckige Haus, in dem Sophia wohnt, steht zwischen vielen anderen mehrstöckigen Häusern, die alle gleich aussehen. Keine Balkone, glatte Fassaden, braun angestrichen. Die Holzrahmen der Fenster sind irgendwann mal weiß gewesen.
    Felix hatte mir gezeigt, bei wem ich klingeln musste, bevor er mit Sven im Schlepptau weitergezogen war, wohin auch immer. Ich hatte den beiden nachgeschaut. Wie verrückt muss man sein, um einem Gehörlosen seine Geschichten zu erzählen? Und wie verrückt muss man sein, um jemandem zuzuhören, ohne ihn zu hören? Aber weder Felix noch Sven schämten sich dafür. Ihre seltsame Freundschaft war ihnen nicht peinlich. Für sie war sie die normalste Sache der Welt. Das machte, dass ich mich selber gleich viel besser fühlte.
    Aber nicht für lange.
    Als Sophias Mama mir die Tür öffnete, schwappte mir eine Welle von grauem Gefühl entgegen. Es roch sogar grau. Sophias Mama sah nicht aus wie eine Mama, die sich dafür interessiert, welche Kinder in die Schulklasse ihrer Kinder gehen. Das war mein Glück. Sie trug einen schmuddeligen Morgenmantel und winkte mich in die Wohnung, noch bevor ich meinen Spruch ganz aufgesagt hatte.
    »Guten Morgen. Ich bin ein Freund von Tobias und —«
    »Ist einkaufen.« Ich stand vor ihr in einem düsteren Flur. Mit einer Hand zeigte sie über meine Schulter hinweg. In der anderen hielt sie eine qualmende Zigarette. »Kommt aber bald wieder. Kannst so lange in seinem Zimmer warten.«
    Ich betrachtete fasziniert ihre Fingernägel. Sie waren rosa angemalt und splitterig. Keine Klebchen drauf. Niemals würde meine eigene Mama mit dermaßen ungepflegten Nägeln unter die Leute gehen. Und die Haare würde sie sich gefälligst auch kämmen, direkt nach dem Zähneputzen.
    Sophias Mama schlurfte zurück ins Wohnzimmer. Durch die offene Tür sah ich einen Flachbild-Fernseher. Er war noch größer als der von Frau Dahling und er musste nagelneu sein, denn er war das Einzige in der ganzen Wohnung, was strahlte. Ich hatte ihn schon vor der Tür im Treppenhaus ziemlich gut gehört. Hier, in der Wohnung, klang er nervend laut. Zwei Nachbarn keiften sich in einer Talkshow an, weil der eine dem anderen betrunken über den Gartenzaun gepinkelt hatte und daraufhin dessen Rabatte eingegangen waren.

    Im hinteren Teil des Flurs gab es nur zwei weitere Zimmer. An einer Tür klebten bunte Bildchen und ein Poster mit einer Barbiepuppe drauf. Ich klopfte leise an und trat ein. Wenn Sophia nicht zu Hause war, würde ich sofort heimlich abhauen.
    In dem Zimmer herrschte das größte Durcheinander, das ich je gesehen habe.

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