Riedripp: Kriminalroman (German Edition)
Ried. Da sinkst du ein und wirst eine Moorleiche, und in tausend Jahren zieht dich einer heraus, dann bist du ganz schwarz. So schwarz wie der Schwaaz Vere. Der hat im Ried gehaust.« Er hatte die Worte des Vaters nie richtig verstanden, aber sie waren in seinem Kopf wie zäher Kaugummi hängengeblieben und hatten ihm Angst eingetrichtert.
Paul-Josef war in Gedanken schon wieder bei seinem prächtigen Bogen und freute sich, obwohl er schon nasse Füße hatte. Immer wieder war er in den morastigen, weichen Boden eingesunken. Nun befreite er die scharfen Blätter vom Rohrkolben, schnitt die oberste, dünne Spitze des fingerdicken, flexiblen Halmes ab, machte in das untere, dicke Ende eine Kerbe für die Sehne. Fertig war der Pfeil. Stolz probierte er seine neue Waffe aus. Der Pfeil flog ausgezeichnet. Immer wieder lief er zum Pfeil. Immer wieder schoss er ihn ab. Weiter und weiter kam Paul-Josef ins Ried, das Röhricht wurde dichter. Der Pfeil stieg hoch in den azurblauen Riedhimmel, dann verschwand er zwischen den goldenen Blättern in einem jungen Birkenwäldchen. Aufgeregt jagte Paul-Josef hinter seinem Pfeil her.
Was er im Birkenwäldchen sah, war eigenartig. Da lag jemand auf dem Rücken und schlief. Es war eine schlanke Frau mit blonden, langen Haaren und sie trug eine komische Maske.
Das Riedweible! Oder hatte der Vere, von dem der Vater manchmal erzählte, mit ihr etwas zu tun? Paul-Josef musste beinahe lachen. Das Lachen geronn jedoch zu einem unsicheren Grinsen. Das Grinsen wurde zu einem ängstlichen Blick, die Augenbrauen waren weit hochgezogen, der Mund war leicht geöffnet. Die blasse Maske der Liegenden war ohne Nase, dafür waren umso mehr Zähne da. Fast das ganze Gesicht hatte Zähne. Und so große Zähne. Die Masken an Fasnet sahen manchmal ähnlich aus, vor denen hatte er keine Angst mehr.
»He, du! Steh auf.«
Aus der Angeredeten war jedoch jegliches Leben sorgfältig entfernt worden. Die Augen starrten trüb ins Blaue, das von goldenen Blättern durchwirkt war, ohne die Vergänglichkeit der herbstlichen Schönheit zu erkennen.
Paul-Josef wurde immer unsicherer, er stupste mit seinem Haselnussbogen gegen den Körper. Irgendwie wirkte alles eigenartig. Das Maskengesicht, der unbewegliche Körper, die verkrampften Hände. Die Bluse war um die Schultern gelegt und gab, da ein Unterhemd fehlte, den Blick auf die linke Brust und eine lange braunrote Wunde frei, die Paul-Josef an das Metzgern erinnerte. Aus der Wunde ragte etwas gelblich Weißes. Auch der Geruch signalisierte ihm, dass mit der Schlafenden etwas nicht stimmte. Ein frisch geschlachtetes Schwein roch ganz anders. So rochen höchstens die Schlachtabfälle auf dem Misthaufen, wenn sie alt genug waren. Die vielen Käfer, Würmer und Fliegen um die Frau machten ihm plötzlich Angst. Überall schien hektisches, wuselndes Leben, nur nicht dort, wo er es erwartet hätte. Das Leben schien vom Tod zu leben. Und dann spurteten die feisten Beinchen los. Nie mehr in seinem Leben würde er diesen Geruch vergessen. Süß und Ekel erregend, schwer und flüchtig. ’S Riedweible, ’s Riedweible!
8 Geschwätzallerlei
Das Buch der Sprichwörter
14:23 Jede Arbeit bringt Erfolg, leeres Geschwätz führt nur zu Mangel.
14:24 Die Krone der Weisen ist ihre Klugheit, der Kranz der Toren ist ihre Narrheit.
25:9 Trag deinen Streit mit deinem Nächsten aus, doch verrate nicht das Geheimnis eines andern,
25:10 sonst wird dich schmähen, wer es hört, und dein Geschwätz wird auf dich zurückfallen.
25:11 Wie goldene Äpfel auf silbernen Schalen ist ein Wort, gesprochen zur rechten Zeit.
25:12 Wie ein goldener Ring und Schmuck aus Feingold ist ein weiser Mahner für ein Ohr, das zuhört.
25:13 Wie kühlender Schnee an einem Sommertag ist ein verlässlicher Bote für den, der ihn sendet; er erquickt die Seele seines Herrn.
Das rustikale, psychische Gleichgewicht der 800-Seelen-Gemeinde war gestört. Ein Zeichen dafür war die hohe Fahrzeugdichte vor dem Goldenen Ochsen. Ansonsten lag Riedhagen wie immer sanft in den das Ried säumenden Hang eingebettet. Die untere Grenze zur morastigen Ebene des Pfrunger-Burgweiler Rieds hin, das landläufig nur Pfrunger Ried genannt wurde, war durch vielerlei Hecken wie Hagebutte, Holunder und wilde Himbeeren sowie Birnen- und Apfelbäume geprägt, die nun verschwenderisch ihre Früchte in der herbstlichen Abendsonne präsentierten. Auf den Weiden standen schwarz-weiße Kühe. Im Zentrum wachte der Kirchturm mit
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