Riemenschneider
…« Er musste unterbrechen, erst nach tiefem Atemholen gehorchte seine Stimme wieder. »Verzeih. Auch meine erste Anna lag dort, daran dachte ich.« Während Magdalena die Tote in ein Leintuch hüllte, weinte sie still. Er hob den schmalen Körper auf seine Arme und trug ihn wie ein Kleinod die steile Treppe hinauf.
Magdalena hatte Florian rasch zu ihrer kleinen Wohnung im Hause des Stadtschreibers begleitet, war in die Franziskanergasse zurückgekehrt und blieb auch den Abend über. Während ihre Herrin von den Klagefrauen gewaschen und eingekleidet wurde, brachte sie die Kinder zu Bett. Lange saß sie im Zimmer von Annas vier Geschwistern, betete, weinte mit den Unglücklichen und versprach ihnen: »Habt keine Angst, ihr werdet nicht weggeschickt. Hier ist euer Heim.«
Katharina schwieg, wollte nur Schutz, und lange hielt Magdalena das Mädchen im Arm, bevor es bereit war, allein in der Kammer zu liegen.
Die drei kleinen Söhne aber wussten noch nichts vom Tod der Mutter.
»Ist die Mama die Kellertreppe runtergefallen?« Jörg, der Älteste, hatte sich wieder aufgesetzt.
»Das habe ich euch doch schon erzählt.«
»Aber nicht, wann sie wieder gesund ist.«
Magdalena fühlte, wie ihre Knie schwach wurden, und sank auf den Hocker neben dem breiten Bett. Ehe ihr eine Antwort einfiel, schubste Hans den Bruder in die Seite. »Das geht schnell. Ich bin auch mal gefallen. Hier …« Er kroch unter der Decke vor und zeigte die Narbe an seinem Schienbein. »Das hat wehgetan, und jetzt tut’s nicht mehr weh. So geht das mit der Mama auch.«
»Und warum sind dann so viele Leute gekommen?«
»Ich auch«, meldete sich Barthel, dabei bohrte er weiter in der Nase. »Ich bin auch gefallen.«
»Genug jetzt!« Magdalena erhob sich wieder und drückte ihre Schützlinge zurück in die Kissen.
Jörg gab sich nicht zufrieden. »Sag du doch, wann die Mama wieder gesund wird?«
»Ich weiß es nicht.« Magdalena streichelte nacheinander den dreien übers Haar. »Schlaft jetzt. Vielleicht wird sie … ein Engel, der euch immer behütet.«
Diese Vorstellung genügte den beiden Größeren. Barthel nickte und schloss die Augen. »Engel sind schön, das weiß ich genau.«
Stille war eingezogen. Rechts und links der Toten wachten die Flammen der Sterbelichter. Ihr entstelltes Gesicht hatten die Klagefrauen wieder verhüllt, und das kleine Kreuz auf dem Seidentuch verlieh dem Antlitz ruhigen Frieden. In den Räumen, auf den Treppen füllte der Geruch nach gelöschten Kerzen und Ölen die Dunkelheit. Der Geruch eines fremden Gastes.
Nur am Ende des langen Flurs zur Küche drang matte Helligkeit durch die angelehnte Tür. Keine Öllampen, die züngelnden Flammen des wieder entfachten Herdfeuers sollten genügen.
Meister Til saß über den Tisch gebeugt, die Arme aufgestützt drehte er den Weinbecher in den Händen. Magdalena sah vor sich hin und wartete. Weil sie nach all dem Leid und Elend selbst Nähe suchte, so dringend benötigte, hatte sie gewagt, bis an die Tischecke zu rücken. Hin und wieder nippte sie vom Wein, und jedes Mal fürchtete sie, ihr Schlucken könnte ihn stören.
Unvermittelt sprach er, als führte er den Satz aus seinem Innern weiter: » … und wirklich gekannt habe ich Anna nicht. Das ist allein meine Schuld, weil ich mir keine Zeit genommen habe. Sie war immer nur still. Ob des Nachts oben in unserm Bett oder bei Tag im Haus … nie hat sie einen Wunsch geäußert, immer das getan, worum ich sie bat … Beschenkt hat sie mich …« Die Stimme drohte zu ersticken, erst nachdem er getrunken hatte, gelang es ihm fortzufahren: »Beschenkt mit vier wunderbaren Kindern. Meine Buben … Katharina, dieses schöne Mädchen.« Er wandte den Kopf, suchte Magdalenas Augen. »Hilf mir! Es quält mich seit Stunden: Ist Anna wirklich gefallen?« Er nahm ihre Hand und hielt sie fest. »War es ein Unfall, oder hat sie … hat sie sich die Treppe hinabgestürzt?«
Dieser Gedanke quält auch mich, dachte Magdalena, o Heilige Jungfrau, nimm ihn endlich fort von mir. Sie klammerte sich nun selbst an die große Hand.
Niemand war bei der Herrin gewesen. Rupert hatte am Morgen schon alles Nötige heraufgeholt. Genügend Wasser, die Körbe und Tiegel aus dem Vorratsraum. Es gab für Frau Anna keinen Grund, in den Keller zu gehen.
»Willst du nicht antworten?«, drängte er.
»Eure Frau … sie ist gefallen.« Ein Trost ohne Wahrheit. So wollte sich Magdalena nicht befreien. »Herr, ich weiß es nicht genau. Oft hat sich Frau Anna mir anvertraut.
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