Riemenschneider
ohnehin wegen der sich rasch ausbreitenden evangelischen Lehre immer mehr nach. Und vor allem hatten Mönche und Nonnen ihre Ordenskleider abgelegt.
»Viele Klöster sind verarmt oder müssen schließen. Und die waren unsere beste Kundschaft, Vater. Deshalb …« Jörg suchte mit dem Blick Hilfe bei Tobias. »Deshalb bitte ich dich, verachte unsere Arbeit nicht. Wir mühen uns fürs Überleben. Und wenn es eben Särge und Grabsteine sind.«
Til drückte seinem Sohn wortlos die Schulter, er nahm Tobias am Arm und zog die beiden näher. »Es war falsch von mir. Den alten Körper haben sie mir da oben zerschunden, und vielleicht war es auch zu lange dunkel. Danke, Junge, dass du mir die Augen geöffnet hast. Ja, ihr seid tüchtig, auch weil ihr den Kopf nicht hängen lasst.« Til tippte Jörg leicht gegen die Brust. »Und sei ganz sicher, die Zeit der Heiligen und Madonnen, unsere Zeit, kommt wieder. Daran sollten wir fest glauben. Weil die Menschen sehen wollen, zu wem sie beten.« Er sah von einem zum anderen. »Ich werde wieder mitarbeiten. Die Verletzungen sind so weit auskuriert.« Ein neues Feuer war im Braun der Augen entfacht. »Und neben den Särgen sollten wir Figuren auf Vorrat anfertigen. Wenn ihr das Relief bei den Klosterfrauen aufgestellt habt, werden wir uns anhand der Skizzenblätter entscheiden, welches Motiv wir auswählen.«
Am Abend stand Til allein im Steinsaal, Öllichter brannten rechts und links des hohen Beweinungsbildes, die Kerzen davor belebten den dunklen Sandstein mit ihrem Licht. Versunken betrachtete Tilden hingegebenen Leib, das im Schmerz gelöste Antlitz. Später hob er den Blick zu Nikodemus, sah sein eigenes Gesicht. »Lange war ich fort«, flüsterte er. »Jetzt erst ahne ich, was der Herr wirklich ertragen musste.«
Sein Altgeselle hatte den Stein vorbereitet, die grobe Form herausgehauen und mit Kohle die erste Schicht des Figurenumrisses aufgezeichnet. Die Wahl des Meisters war auf Petrus gefallen. »Wie ein Fels hat er an seinem Glauben festgehalten.«
Ein neuer Tag, ein Neubeginn. Weiches Licht der Septembersonne drang durch die hohen Fenster, als Til an die Werkbank trat. Er befühlte den Stein, fand keine Aderspur, die zum Riss werden konnte. In ruhiger Andacht nahm er das breite Zahneisen, wog es in der Linken, seine Rechte fasste den Klüpfelschaft etwas über der Mitte, ein sicherer Griff, so tausendmal getan.
Til setzte das Eisen an. Zugleich mit dem ersten Schlag durchfuhr heißer Schmerz die Armgelenke und brannte in den Sehnen hinauf zu den Schultern. Es kümmerte ihn nicht, wieder und wieder schlug er zu. Schweiß perlte ihm von der Stirn. Kraft fehlte. Der Meißel ließ sich nicht führen, grub keine sichere Spur. Jeder Aufprall schrie in ihm. Til trocknete mit dem Ärmel die Stirn, er blickte über die Schulter und sah ins besorgte Gesicht seines Altgesellen. »Was ist? Hast du nichts Besseres zu tun?«
Tobias schwieg.
»Ich bin eben das Hauen nicht mehr gewohnt. Das ist alles.«
»Ja, Meister.«
Blutröte stieg ihm ins Gesicht, fahrig legte er Klüpfel und Kammeisen nieder. »Nicht mehr gewohnt.« So rasch es seine Fußgelenke erlaubten, verließ er die Werkstatt.
Er wollte allein arbeiten. Tobias und Jörg mussten eine Stunde früher als gewohnt in den Feierabend gehen, dann erst suchte der Meister den Steinsaal auf, nutzte das letzte Tageslicht, und oft arbeitete er noch lange im Schein der Öllampen. Nach notvollen Wochen war eine Figur entstanden, ohne Faltenwurf, ohne Ausdruck. »O Petrus, wie ärmlich du bist«, flüsterte Til beschämt. Er wandte sich von der Werkbank ab, hob seine Hände dicht vor die Augen und musste zusehen, wie die Finger zitterten, einzeln unkontrolliert zuckten. Sosehr er auch versuchte, sie mit dem Willen zu zähmen, es gelang nicht. »Großer Gott, gib mir meine Ruhe, meine Sicherheit zurück.«
Magdalena wusste von dem verzweifelten Mühen. Abend für Abend hatte sie am Küchenfenster gestanden und auf das Schlagen gehorcht. Immer wieder war sie versucht, zu ihm hinüberzugehen, und hatte den Drang ebenso oft unterdrückt. Sie kannte seinen Stolz und wollte ihn durch ihr Mitfühlen nicht kränken. So wartete sie auf ihn, lächelte zur Begrüßung und stellte Brot, etwas Käse und Wein auf den Tisch. Während er aß, hatte sie den Hocker nah an die Tischecke gerückt und sich bemüht, ihn zu unterhalten, berichtete vom Beginn der Weinlese und plauderte über Belanglosigkeiten im Haushalt.
Heute saß er noch schweigsamer da als an
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