Riemenschneider
Sonntagsmesse in der Marienkapelle war zu Ende. »Rück deinen Kragen zurecht«, ermahnte sie das Kind mit milder Stimme, »und vergiss nicht, solange wir unter Menschen sind, darfst du dich nicht kratzen oder …«
»Ich weiß, Mama, nicht in der Nase bohren, nicht hüpfen, nicht …«
»Kleine Prinzessin!« Der Blick wurde strenger. »Deine Mutter meint es immer gut mit dir.« Anna schob das Mädchen vor sich her aus der Bankreihe. Im Mittelgang fand sich die Familie zusammen, Meister Til und seine Gemahlin strebten, gefolgt von den drei halbwüchsigen Söhnen und der Tochter, im Strom der Gläubigen dem Ausgang zu. Noch wagte niemand, laut zu sprechen, Til grüßte Bürgermeister Suppan mit einer leichten Verbeugung, sie nickte Frau Hedwig zu, und beider Blicke verrieten schon, dass es viel zu erzählen gab.
Das geöffnete Portal führte hinaus in den milden Junitag. Ihrem Ältesten übertrug Anna flüsternd die Verantwortung für Gertrud und die Brüder. »Bring deine Geschwister heim!«
»Aber, Mutter, Freunde warten …«
»Auf kürzestem Weg. Nein, keine Widerworte. Du musst lernen, ein Vorbild zu sein. Vor allem für die beiden Kleinen. Ich verlasse mich auf dich.«
Niemand von den Erwachsenen schien es eilig zu haben, ein ausführlicher Plausch mit Nachbarn oder Freunden gab dem Sonntag erst die Würze von Muße und Nichtstun. Martin Cronthal, der Notar und Advokat aus dem Hauger Viertel, tätschelte die Hand seiner Frau Margaretha, bis dem Seufzen die stumme Erlaubnis folgte; und während der kleine wieselige Mann sich wie erlöst zu Bildschnitzer und Bürgermeister gesellte, wurde sie von Anna und Hedwig gleich einvernommen. »Meine Liebe …«, »Ihr Liebsten, wie schön euch zu sehen …«, »Was ich noch sagen wollte: Habt ihr schon gehört …?« Und die mit Federn geschmückten Hauben neigten sich zueinander.
Politik bestimmte das Gespräch bei den Männergruppen. Aber nicht die wieder aufgeflammte Türkengefahr an den Ostgrenzen des Reiches, nicht die Heldentaten König Maximilians waren das Thema, immer wieder richteten sich besorgte Blicke hinauf zum Schloss.
Martin Cronthal runzelte die Stirn. » … dass es so schlecht mit der Gesundheit unseres hochwürdigen Fürstbischofs und Herrn steht, besorgt mich zutiefst.«
»Segensreich war er für uns. Tja, dreiundneunzig Jahre …« Bürgermeister Suppan faltete die Hände über dem Bauch. »Solch ein Alter erreicht nur einer, der mit unserm Herrgott einen besonderen Vertrag abgeschlossen hat.«
»Weil du gerade von Verträgen sprichst …« Til zeigte sein Lächeln. »Für die zwölf Apostel werde ich mehr Zeit benötigen. Wir kommen in der Werkstatt mit der Arbeit nicht nach.«
»Diesen Satz kenne ich doch von dir«, spottete Georg Suppan und zwinkerte dem Notar zu. »Ich glaube, Martin, der Rat hat einen Fehler begangen. Wir hätten die Vereinbarungen mit unserem verehrten Meister von dir siegeln und sie mit einem Versäumnisgeld bei verspäteter Ablieferung ergänzen lassen sollen. So mancher Extragulden wäre schon in den Stadtsäckel gewandert.«
»Ein Bildschnitzer ist nicht mit unsereins zu vergleichen.« Cronthal nahm den Scherz für Ernst. Leichtigkeit war dem klugen Mann fremd. »Unsere Pflichten und Arbeiten sind messbar, er aber muss Gefühle und Gedanken sichtbar machen, sie erschaffen mit seinen Händen.«
Til hörte dem Gespräch der Freunde nicht mehr zu, mit zusammengezogenen Brauen blickte er hinüber zu den Bettlern am Nordrand des Platzes. Etwas abgesondert von den Zerlumpten saßen vier Wöchnerinnen auf Hockern, in einem Arm das Wickelkind, die halb geöffnete freie Hand streckten sie bittend den Kirchenbesuchern hin. »Bin gleich wieder bei euch«, entschuldigte er sich und ging langsam durchs Gedränge, erwiderte einsilbig oder nur mit Kopfnicken das freundliche Grüßen einiger Nachbarn.
Warum? Er wollte es nicht glauben und wusste dennoch genau, wer dort ganz links, die vierte der bettelnden Mütter war. Warum erniedrigt sie sich so? Sobald sein Blick frei war, stockte Til der Fuß. »O Herr, bewahre mich«, flüsterte er tonlos, »lass es nicht zu einem Unglück kommen.«
Die drei vornehmen Bürgerfrauen, Anna, Hedwig und Margaretha, waren auf dem Weg zu den Kindbetterinnen, blieben gerade bei der ersten stehen.
Nach dem Vergewissern, ob die Wöchnerin auch über einen gültigen Bettelausweis verfügte, folgten aus dem eigenen Erfahrungsschatz kluge Ratschläge für die Erziehung des Kleinkindes, und dann erst wurden die
Weitere Kostenlose Bücher