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Riesling zum Abschied

Riesling zum Abschied

Titel: Riesling zum Abschied Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: P Grote
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sich derart intensiv für meinen Freund einsetzen, habe ich mir erlaubt, die Rechnung für den Wein zu übernehmen. Eine wichtige Verabredung zwingt mich leider dazu, unser sehr aufschlussreiches Gespräch zu unterbrechen. Ich wünsche Ihnen weiterhin guten Appetit, Herr   ...«
    Thomas gab Vormwald nicht mehr die Hand, sondern deutete eine Verbeugung an. »Würden Sie mir bitte die Generalvollmacht aushändigen, die Manuel Ihnen für mich übergeben hat?«
    Vormwald brauchte einen Moment, bis er begriff. »Die liegt im Büro, ich werde veranlassen, dass man sie Ihnen zuschickt. Es kann einige Tage dauern. An welche Adresse?«
    »An die von Manuel Stern   ...«
    »Sie meinen natürlich nicht die vom Untersuchungsgefängnis?«
    »Es gibt Menschen, die lachen am liebsten über eigene Witze.«
    Thomas wandte sich ab. Er eilte zum Parkplatz. Er musste sich beeilen. Er wollte sehen, wo ihr Chemiedozent, dessen private Adresse Johanna ihm mitgeteilt hatte, in Frankfurt wohnte. Die Rushhour setzte gerade ein. Den Weg nach Frankfurt kannte er, sie waren auf der Suche nach guter Musik und coolen Partys mehr oder weniger erfolgreich durch diverse Clubs gezogen – bis Alexandra dazwischengefunkt hatte. Ihr war alles immer eine Spur zu gewöhnlich gewesen. Sie hatte Cocktailbars bevorzugt.
    |208| Auf dem Rückweg kam Thomas wieder am Denkmal für den Spätlesereiter vorüber. Er saß da, in Stein gehauen, in der rechten eine Traube, in der linken Hand die schriftliche Genehmigung des Fuldaer Bischofs zum Beginn der Lese auf dem Johannisberg. Der Weinberg war im Jahr 1775 in der Hand des katholischen Klerus, und das Bischofsamt in Fulda erteilte jedes Jahr wieder die Genehmigung zur Lese. Aber 1775 kam der reitende Bote erst zwei Wochen, nachdem man mit der Lese hätte beginnen müssen. Hatte sein Pferd gelahmt? Hatte eine charmante Reisebekanntschaft den Boten unterwegs aufgehalten? Den wahren Grund für die Verspätung hat bis heute niemand herausgefunden. Jedenfalls waren die Trauben bei Ankunft des Boten überreif und von Fäule befallen. Sie wegzuwerfen wäre den Mönchen nie in den Sinn gekommen: Sie kelterten den Wein aus dem, was ihnen geblieben war. So entstand die erste verbriefte Spätlese der Geschichte, und bei der Verarbeitung der von Botrytis befallenen Trauben wurde der grandiose Geschmack edelfauler Weine entdeckt.
    Thomas saß die Befürchtung im Nacken, dass es ihm wie dem Spätlesereiter ergehen könnte, dass er mit seinen Nachforschungen zu spät käme und Vormwald bereits alles in die Wege geleitet hatte – nur was?

|209| 12
    Johanna war erleichtert, den Rheingau für eine Woche hinter sich zu lassen. Die Maschine war startbereit und würde in wenigen Minuten abheben und sie nach Marseille bringen. Johanna hoffte, dass der Leihwagen für die Weiterfahrt nach Gigondas bereit stand. Sie wäre auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln in das Dorf in Vaucluse am Fuß der berühmten Dentelles de Montmirail gelangt. Ein Bus verkehrte in der menschenleeren Region am linken Ufer der Rhône morgens und abends, dann müsste sie jedoch ihr Auftraggeber eine ganze Woche herumfahren oder ihr ein Auto zur Verfügung stellen. Doch sie blieb lieber unabhängig, denn sie wollte sich allein umsehen.
    Das Flugwetter war gut, über den Wolken schien die Sonne, davon hätte der Rheingau in diesem Jahr mehr abbekommen müssen. Es war zu kühl, es war zu nass. An der Rhône war es anders, Gigondas hatte 2 700   Sonnenstunden im Jahr und damit eintausend Stunden mehr als der Rheingau. Johanna freute sich auf die Wärme, auf die Landschaft, auf den warmen Duft nach Kräutern, Lavendel und Rosmarin, wie sie ihn von einer Reise mit Carl in Erinnerung hatte. Die Vorfreude auf das weiche, fließende Licht des Südens, das die Konturen glättete, eine innere Ruhe schuf und neue Farben entstehen ließ, machte sie lächeln.
    Dazu trug auch die Erinnerung an das Wochenende mit Carl bei. Langsam glaubte sie wirklich, dass sie die Ebene |210| wiederfinden könnten, auf der sie sich früher begegnet waren, auf der sie Verständnis füreinander fanden, bis Misserfolg und Zweifel am Sinn ihres Berufs ihre Beziehung untergraben hatten. Jetzt war Carl gekommen, sein Besuch in Bingen, der erste, zeigte ihr sein wiedererwachendes Interesse, und sie hatte getan, was ihr am schwersten fiel: Sie hatte sich gehen lassen. Was in den vergangenen Jahren unausgesprochen zwischen ihnen gestanden hatte, war in einer einzigen Nacht zwar nicht bewältigt

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