Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
Scheiße!«
Er trat zurück und hob den Arm, um Carly den Anblick zu ersparen, doch es war zu spät.
Im Licht der Taschenlampe sah sie zwei Beine, die von den Knien abwärts in einer türkisfarbenen Jogginghose steckten. Die Oberschenkel waren nackt. Der Unterleib war nur noch eine schwarz-rote Masse, aus der etwas herausragte, das wie eine gigantische weiße Gräte aussah.
Ein Teil der Wirbelsäule, begriff sie, und umklammerte unwillkürlich Lanigans Arm. Galle stieg ihr in den Mund. Fernanda Revere war in zwei Teile zerrissen worden.
Bebend vor Schock und Entsetzen wandte sie sich ab. Sie taumelte einige Meter, fiel auf die Knie und erbrach sich, die Augen blind vor Tränen.
84
NACH EINEM GROSSEN WHISKY und zwei Gläsern Pinot Noir in der Hotelbar hatte sich Carly halbwegs beruhigt, stand aber immer noch unter Schock. Lanigan trank nur ein kleines Bier. Er sah topfit aus – als erlebte er so etwas ständig und sei immun dagegen. Dennoch war er ein mitfühlender Mensch. Sie fragte sich, wie man sich an etwas so Furchtbares gewöhnen konnte.
Obwohl ihr die Frau so feindselig begegnet war, war Carly verzweifelt und traurig über ihren Tod. Lanigan hatte gesagt, sie müsse Fernanda Revere nicht bemitleiden, an ihren Händen klebe Blut, sie stamme aus einer brutalen Familie, die von den Früchten der Gewalt lebte. Dennoch, Carly konnte nicht anders. Fernanda Revere war ein menschliches Wesen gewesen. Eine Mutter, die ihren Sohn sehr geliebt hatte. Niemand verdiente es, so zu sterben.
Und Carly war die Ursache gewesen.
Lanigan sagte, so dürfe sie es nicht betrachten. Fernanda Revere habe sich in ihrem Zustand niemals ans Steuer setzen dürfen. Sie habe selbst entschieden, mit dem Auto zu fahren. Sie habe Carly einfach aus dem Haus weisen sollen. Ihr Handeln sei nicht rational gewesen.
Dennoch machte Carly sich Vorwürfe. Wäre sie nicht dorthin gefahren, würde Fernanda Revere noch leben. Am liebsten wäre sie zurückgefahren und hätte sich bei Lou Revere entschuldigt, doch das wollte Pat Lanigan auf gar keinen Fall dulden.
Sie standen lange Zeit draußen, während er noch eine Zigarre rauchte und sie ein halbes Päckchen Zigaretten. Keiner von ihnen konnte die entscheidende Frage beantworten: Was würde jetzt geschehen?
Carly war völlig ratlos. Wie würde der Ehemann reagieren? Die anderen Familienmitglieder? Natürlich hatte sie mit einer schwierigen Aufgabe gerechnet, als sie ins Flugzeug gestiegen war, aber nicht im Entferntesten geahnt, dass ihre Reise solche Konsequenzen haben könnte. Mit zitternder Hand zündete sie sich die nächste Zigarette an.
»Carly, Sie sollten jetzt ernsthaft erwägen, sich in ein Zeugenschutzprogramm zu begeben. Ich werde dafür sorgen, dass Sie während Ihres Aufenthalts hier geschützt werden, aber Leute wie die Reveres haben ein gutes Gedächtnis und einen langen Arm.«
»Meinen Sie, ich wäre in einem Zeugenschutzprogramm wirklich sicher?«
»Das kann man nicht mit hundertprozentiger Gewissheit sagen, aber es wäre die beste Möglichkeit.«
»Wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Mit Ihrem Kind in einen anderen Teil des Landes zu ziehen und Familie und Freunde niemals wiederzusehen? Wie würde Ihnen das gefallen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Vermutlich würde es mir nicht sonderlich gefallen. Aber wenn mir wirklich keine andere Wahl bliebe, wäre es sicher besser als die Alternative.«
»Welche – welche Alternative?«
Er schaute sie unerbittlich an. »Genau die, an die Sie denken.«
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DIE KLIMAANLAGE WAR ZU KALT und zu laut. Carly drückte alle möglichen Knöpfe, aber es wurde nicht besser. Sie konnte auch kein zusätzliches Bettzeug finden, legte sich schließlich vollständig bekleidet unter die Decke, während eine Flut düsterer Gedanken auf sie einprasselte.
Um kurz nach sechs war sie hellwach und stand auf, ging ans Fenster und öffnete die Jalousien. Licht flutete herein, der dunkelblaue Himmel war wolkenlos. Ihr Blick wanderte von einem Flugzeug zu dem labyrinthischen Industriegebiet und der vielbefahrenen Straße dreißig Stockwerke unter ihr.
Ihr Kopf hämmerte. Ihr war flau im Magen, und sie hatte große Angst. Sie wünschte sich verzweifelt Kes herbei, damit sie einfach mit ihm darüber reden konnte. Er hatte sich nie von irgendetwas überwältigen lassen. Nur von dem verdammten weißen Zeug, unter dem er erstickt war.
Shit happens , hatte er gern gesagt. Er hatte recht gehabt. Sein Tod war beschissen. Der Unfall war beschissen.
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