Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
irgendwo Zigarettenrauch herüber. Sofort überkam sie eine leise Traurigkeit – die Erinnerung an den Mann, den sie einmal so geliebt hatte.
Sie griff nach der Zeitung, die keinem zu gehören schien. Es war erst elf, doch im Englischen Garten war schon eine Menge los. Dutzende Leute saßen an den Biertischen, manche von ihnen Touristen, aber auch Einheimische, die den Start ins Wochenende genossen. Die meisten hatten eine Maß Bier vor sich, andere tranken Wasser oder Cola. Auf dem See vergnügten sich Leute in Ruder- und Tretbooten, und sie schaute zu, wie eine Entenmutter, gefolgt von einem Trupp winziger brauner Entchen, die hölzerne Insel umrundete.
Plötzlich kam eine sehr entschlossen wirkende Nordic Walkerin, die sie auf Mitte sechzig schätzte, auf den Tisch zu marschiert. Sie trug leuchtend rote Sportkleidung, hatte die Zähne zusammengebissen und ließ die Stöcke energisch auf den Boden klacken.
Lass mich in Ruhe, verschwinde, dachte sie, stützte die Ellbogen auf den Tisch und schaute die Frau feindselig an.
Es funktionierte. Sie klackte weiter und setzte sich an einen weiter entfernten Tisch.
Es gab Augenblicke wie diesen, in denen sie sich nach Einsamkeit sehnte, und wenige kostbare Momente, in denen sie sie tatsächlich fand. Das gehörte zu den Dingen, die sie bei ihren Samstagmorgenläufen am meisten schätzte. Es gab immer so vieles, über das sie nachdenken musste, aber nicht genügend Zeit, um sich darauf zu konzentrieren. Ihre neuen Herren gaben ihr jede Woche neue Denkanstöße. Diese Woche hatten sie gesagt: Bevor du neue Horizonte suchen kannst, musst du zuerst den Mut finden, das Ufer aus den Augen zu verlieren.
Hatte sie vor zehn Jahren nicht genau das getan?
Dann überfiel sie mit der nächsten Rauchwolke ein neuerlicher Schmerz. Sie hatte einen schlechten Tag erwischt, eine schlechte Woche. Zweifelte an allem. Fühlte sich allein und trostlos und verunsichert. Sie war siebenunddreißig, alleinstehend, hatte zwei gescheiterte Beziehungen hinter sich. Und was lag vor ihr?
Im Augenblick gar nichts.
Der gute alte Nietzsche hatte gesagt, wenn man lange genug in einen Abgrund blicke, blicke der Abgrund auch in einen hinein.
Sie verstand, was er damit sagen wollte. Um sich abzulenken, las sie in der Zeitung den Artikel über das Busunglück. Alle Passagiere waren Mitglieder einer christlichen Gruppierung aus Köln. Sieben Tote, dreiundzwanzig Schwerverletzte. Sie fragte sich, was sie jetzt von Gott hielten. Dann bekam sie ein schlechtes Gewissen, weil sie so dachte, und blätterte weiter.
Sie sah Fotos eines Radfahrers, der vor der Polizei floh, und von einem weiteren Verkehrsunfall. Diesmal war ein VW Passat umgekippt. Auf der nächsten Seite ging es um die Schließung einer Fabrik, die sie nicht interessierte. Ebenso wenig wie die Aufnahme einer Schul-Fußballmannschaft. Sie blätterte weiter. Und erstarrte.
Sie schaute wie gebannt auf die Wörter, konnte ihren Augen nicht trauen, übersetzte alles für sich ins Englische.
Sie las es noch einmal.
Saß da wie zur Salzsäule erstarrt.
Es war eine Anzeige. Nicht groß, nur eine Spalte breit. Sie lautete:
Sandra (Sandy) Christina Grace,
Ehefrau von Roy Jack Grace aus Hove, City of Brighton and Hove, East Sussex, England.
Seit zehn Jahren vermisst, vermutlich tot. Zuletzt gesehen in Hove, East Sussex. Sie ist 1,70 m groß, schlank und hatte, als sie zuletzt gesehen wurde, schulterlanges blondes Haar.
Falls niemand der Kanzlei Edwards and Edwards LLP unter der nachstehenden Adresse Beweise dafür erbringen kann, dass sie noch lebt, wird der offizielle Antrag auf Todeserklärung gestellt.
Sie las die Anzeige wieder und wieder. Und wieder.
36
»WEISST DU, WORAUF ich mich wirklich freue?«, fragte Cleo. »Wonach ich absolut gierig bin?«
»Nach wildem Sex?«, erwiderte Roy Grace hoffnungsvoll und warf ihr einen Seitenblick zu.
Sie waren auf der Rückfahrt vom Krankenhaus, und Cleo sah schon tausendmal besser aus. Sie hatte wieder Farbe bekommen und strahlte fröhlich. Sie war schöner denn je. Die Ruhe hatte ihr offenbar gutgetan.
Sie fuhr mit dem Finger lasziv über seinen Oberschenkel. »Sofort?«
Er hielt an einer Ampel in der Edward Street, kurz vor dem Polizeirevier John Street.
»Ist vielleicht nicht gerade der günstigste Ort.«
»Wilder Sex wäre schon gut«, bestätigte sie und strich weiter provozierend von innen über seinen Oberschenkel. »Ich möchte dein Ego nicht verletzen, aber im Augenblick gibt es etwas,
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