Rigor Mortis: Thriller Ein neuer Fall für Roy Grace (German Edition)
vierzig, wirkte aber zehn Jahre jünger. Wenn Leute gemein waren, deuteten sie an, dass sie ihr jugendliches Aussehen womöglich den Fähigkeiten ihres Ehemanns, eines plastischen Chirurgen, verdankte. Doch dank ihres warmherzigen und offenen Wesens waren nur wenige Leute gemein. Die meisten beneideten sie höchstens um ihr Aussehen, und die Hälfte der Männer in der Abteilung Kapitalverbrechen waren scharf auf sie – genau wie auf Cleo Morey.
Normalerweise wäre eine Wasserleiche ins Leichenschauhaus gebracht worden, wo einer der örtlichen Rechtsmediziner die Autopsie am nächsten Tag durchgeführt hätte. Doch wenn es schon Verdachtsgründe gab, musste ein ausgebildeter Spezialist, von denen es in Großbritannien dreißig gab, eine umfassende kriminaltechnische Autopsie durchführen. Die Standardprozedur dauerte eine knappe Stunde. War das Innenministerium involviert, konnte sie abhängig vom Zustand der Leiche, den äußeren Umständen und der Person des Rechtsmediziners zwischen drei und sechs Stunden dauern, manchmal auch länger.
Als leitender Ermittler war Roy Grace verpflichtet, der Autopsie beizuwohnen. Was bedeutete, dass er nicht die geringste Chance hatte, es heute Abend mit Cleo ins Musical Jersey Boys nach London zu schaffen. Er hatte ein Hotel gebucht, und sie wollten morgen, am Bank Holiday, das Rugbyspiel zwischen Armee und Marine in Twickenham besuchen. Nobby Hall, der ehemalige Leiter der Wasserschutzpolizei auf Zypern, und seine Frau Helen hatten sie eingeladen.
Cleo würde es zumindest verstehen – anders als Sandy –, wie er mit einem plötzlichen Anflug von Traurigkeit dachte. Obwohl sie in seiner Erinnerung immer weiter verblasste, war es, als umfinge ihn eine dunkle Wolke, sobald er sich an sie erinnerte. Sandy hatte ihm immer Vorwürfe gemacht, obwohl er ihr genau erklärt hatte, dass er bei einer Mordermittlung eben alles andere stehen und liegen lassen musste.
Sie wolle nicht an zweiter Stelle hinter seiner Arbeit kommen. So sehr er auch versuchte, sie davon zu überzeugen, dass dies nicht der Fall war, blieb sie stur bei ihrer Meinung.
Wie würdest du dich entscheiden, wenn du zwischen mir und deiner Arbeit wählen müsstest, Grace? , hatte sie ihn einmal gefragt.
Sie hatte ihn immer »Grace« genannt.
Für dich, hatte er geantwortet.
Sie hatte gegrinst. Lügner!
Es ist wahr!
Ich habe es in deinen Augen gesehen. Du hast mir doch diesen Trick gezeigt – wenn sie sich in die eine Richtung bewegen, lügst du, in die andere, sagst du die Wahrheit. Deine haben sich nach rechts bewegt. Da schaust du immer hin, wenn du lügst, Grace!
Über ihm schrie eine Möwe. Er sah auf die Uhr. Fast halb eins.
In der Mitte des Kanals fuhr ein Schwimmbagger vorbei in Richtung Schleuse. Dahinter lag das offene Meer. Nadiuska hatte geschätzt, dass sie gegen zwei kommen würde. Sie würde mindestens eine Stunde vor Ort brauchen, um die genaue Lage der Leiche zu untersuchen und festzuhalten, alles zu fotografieren, Preece auf blaue Flecken und Abschürfungen zu untersuchen und einzuschätzen, ob diese vom Kontakt mit dem Inneren des Lieferwagens stammten. Sie würde nach Kleidungsfasern, Haaren und allem anderen suchen, das beim Bewegen der Leiche verlorengehen konnte. Während er bezweifelte, dass man nach mehreren Tagen im Wasser noch Fasern oder Haare am Körper finden würde, entdeckten gute Rechtsmediziner immer wieder Details, die auch den scharfsichtigsten Ermittlern und ausgebildeten Suchexperten entgangen waren.
Er schaute noch einmal durchs Seitenfenster in den Wagen. Preeces schmale, scharfe Gesichtszüge hatten sich nicht verändert, doch seine Haut hatte einen geisterhaften, beinahe durchsichtigen Schimmer angenommen. Immerhin war er noch nicht angenagt worden. Er trug ein weißes, verdrecktes T-Shirt, schwarze Jeans und hatte nackte Füße. Komisch, dass er barfuß gefahren sein sollte, dachte Grace und erinnerte sich an die Turnschuhe, die man im Gästezimmer der Schwester gefunden hatte. War er in solcher Eile aufgebrochen, dass er sie nicht mehr anziehen konnte?
Ein würdeloses Ende eines kurzen, traurigen und verschwendeten Lebens. Immerhin hatten sie Preece vor den Krebsen gerettet. Vielleicht war es bei diesem Dreckskerl auch umgekehrt.
54
GRACE RIEF IN DER SOKO-ZENTRALE an, damit die Suche nach Ewan Preece und dem Ford Transit eingestellt wurde. Stattdessen sollten sich die Kollegen auf die unmittelbaren Nachbarn von Preeces Schwester konzentrieren und nachfragen, ob
Weitere Kostenlose Bücher