Riley Jenson 02 - Wächterin des Mondes
versuchte, meine Angst in den Griff zu bekommen. Sirenen schrillten durch die Nacht und mischten sich mit dem Rauschen des Verkehrs. Ich musste weg sein, bevor die Cops hier waren. Ich konnte es mir nicht leisten, mich hier oben erwischen zu lassen und Zwanzig Fragen zu spielen.
Ich schluckte heftig, konzentrierte mich auf die lautesten Geräusche und teilte sie in unterschiedliche Zonen auf. Dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die leiseren Geräusche in meiner Nähe. Links von mir zirpte eine Grille. Rechts von mir hörte ich leise Schritte.
Ich wischte mir mit dem Mantelärmel den Schweiß aus dem Gesicht, schlich um den Kühlturm herum und spähte um die Ecke. Zwischen mir und dem anderen Kühlturm, an dem der Schütze gestanden haben musste, erstreckte sich eine große freie Betonfläche.
Ich hörte keine Schritte mehr, aber der Geruch verriet mir, dass sich der Mann in der hinteren Ecke des Treppenhauses versteckt haben musste. Vielleicht versuchte er, an mir vorbeizukommen. Vielleicht versuchte er zu flüchten.
Ich ging denselben Weg zurück, den ich gekommen war und schlich lautlos auf die andere Seite des Treppenhauses. Nachdem ich beinahe die Ecke erreicht hatte, blieb ich stehen, senkte meine Schutzschilder ein bisschen und versuchte die Gedanken des Schützen zu lesen. Nichts. Entweder war er geblockt oder irgendwie gegen psychisches Eindringen geschützt.
Erneut fluchte ich leise. Wenn ich nicht in sein Bewusstsein eindringen konnte, musste ich ihn auf altmodische Art erledigen. Ich riskierte einen Blick um die Ecke.
Er hockte auf ein Knie gestützt am anderen Ende des Treppenhauses und hielt die Waffe auf den Turm gerichtet, an dem er bis eben gestanden hatte. Er hielt mich offenbar für blöd. Ich schlich mich langsam an ihn heran und unterdrückte den Drang, mich unsichtbar zu machen und in Vampirgeschwindigkeit auf ihn zuzurasen. Ich wollte nicht, dass er durch den Luftzug gewarnt wurde.
Er bemerkte mich dennoch im letzten Moment, fuhr herum und feuerte auf mich. Die Kugel durchschlug meine Schulter und hinterließ eine tiefe Wunde. Ich keuchte vor Schmerzen, sofort schossen mir Tränen in die Augen, und das Bild vor meinen Augen verschwamm. Dieser Mistkerl schoss mit Silberkugeln.
Er hatte vorhin nicht Quinn im Visier gehabt, sondern auf mich oder Mrs. Hunt gezielt.
Ich hörte, wie er sein Gewehr nachlud, fand mein Gleichgewicht wieder, drehte mich herum und schlug ihm die Waffe aus der Hand. Er griff hinter sich. Ich trat ihm in die Eier, und während er auf den Boden fiel, schmetterte ich ihm einen Schuh gegen den Kiefer. Aus seinem Kinn schossen kleine Flammen. Der Schütze war ein Vampir, auch wenn ich es nicht gespürt hatte. Sein Stöhnen verstummte abrupt, als er mit dem Hinterkopf auf den Betonboden krachte. Er drehte die Augen nach oben und rührte sich nicht mehr.
Nachdem mein Adrenalinspiegel abgesunken war, setzte der Schmerz wieder ein. Ich fluchte leise, zog das Kleid aus und rief den Wolf in mir. Ich spürte, wie die Kraft in meine Glieder fuhr, mich umfing, meinen Blick trübte und den Schmerz linderte. Aber ich verweilte nur kurz in meiner anderen Gestalt und verwandelte mich gleich wieder zurück. Die Wunde brannte immer noch wie Feuer, aber zumindest hatte sie aufgehört zu bluten.
Ich zog mich wieder an, hielt für den Fall, dass er nur bluffte, einen Schuh zum Angriff bereit und trat zu dem Schützen. Er war Weißer, vermutlich Anfang Zwanzig. Schwarze Haare. Die Wangen waren tätowiert, und in der Unterlippe trug er einen Ring. Der hatte mich davon abgehalten, in sein Bewusstsein einzudringen. Das kannte ich noch nicht, offenbar eine neue Erfindung.
Ich legte seinen Körper lang hin, hockte mich auf ihn und setzte den spitzen Holzabsatz auf seine Brust. Reine Vorsichtsmaßnahme. Nur wenn er sich rührte, würde ich zustoßen, denn ich hatte jetzt keine Lust zu kämpfen. Ich hatte den Absatz so positioniert, dass er nicht das Herz durchbohrte. Deshalb würde er nicht sofort sterben, und mir blieb ausreichend Zeit, seine Gedanken zu lesen. Und das war jetzt alles, worauf es ankam.
Ich griff das Lippenpiercing und riss es brutal heraus. Blut quoll aus der Wunde. Er zuckte nicht einmal. Offenbar war er vollkommen weggetreten. Doch das war egal. Jetzt, wo sein Bewusstsein nicht mehr geschützt war, konnte ich mich in seinem Kopf frei bewegen.
Ich fuhr wieder meine Schutzschilder herunter, las seine Gedanken und streifte durch seine Erinnerungen. Er war ein
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