Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
nichts.
»Wenn du willst, werde ich ihm nicht sagen, dass ich dich gesehen habe. Ich werde nicht zu ihm sagen: ›He, Henry, weißt du, wen ich gesehen habe … Deinen kleinen Bruder Charly.‹«
»Doch, genau, sag ihm, dass du mich gesehen hast und dass ich nach ihm suche.«
»Du willst, dass ich ihm sage‚ ich hätte dich gesehen. Du willst, dass ich zu ihm sage: ›He, Henry, du ahnst ja nicht, wen ich gesehen habe … Deinen kleinen Bruder Charly …‹«
»Genau, und dass ich ihn suche …«
»Dann sage ich also zu ihm: ›He, Henry, du ahnst ja nicht, wen ich gesehen habe … Deinen kleinen Bruder Charly … Und er sucht nach dir.‹«
»Ja, genau!«
»Ich weiß aber nicht, ob ich ihn sehen werde.«
»Ja, nur für den Fall, dass.«
»Warum suchst du ihn eigentlich?«
»Wegen einer Sache.«
»Du willst wohl was von ihm?«
»Nein … Was denn?«
»Oh, Mann, hör schon auf, du weißt genau, wovon ich rede.«
»Ich suche meinen Bruder, das ist alles.«
»Er ist nicht hier.«
»Hast du eine Idee, wo er sein könnte?«
Der Typ überlegte, oder er war eingeschlafen, jedenfalls hatte er auf einmal die Augen geschlossen.
»Warum sollte ich dir sagen, wo Henry ist … Wer sagt mir, dass du tatsächlich sein Bruder bist?«
»Wer soll ich denn sonst sein?«
»Du bist ein cleveres Bürschchen.«
Ich sagte nichts, ich hasse es, wenn man mich ein cleveres Bürschchen nennt.
»Und der da, wer ist das?«
Er sprach von Freddy.
»Ein Kumpel.«
»Ein Kumpel … Hör mal, gib mir ein bisschen Kohle, und ich sage dir, wo dein Bruder ist.«
»Ich hab keine Kohle.«
»Und dein Kumpel?«
Freddy war sowieso ständig pleite.
»Ich hab nix.«
»Dann zieht Leine.«
»Was?«
»Zieht Leine, ihr Idioten, oder ich bring euch um.«
Wir wollten wegrennen, doch der Typ packte mich am Arm. Er hielt mich fest, und ich war überzeugt, dass er mir den Arm abreißen würde.
»Du glaubst wohl, ich habe noch nie jemanden umgebracht, was?«
»Nein …«
»Hast du schon mal jemanden umgebracht?«
»Nein …«
»Dann weißt du also nicht, wie es ist … Ich weiß es … Ich töte jeden Tag … Ich hab alle möglichen Typen umgelegt … Ich habe meinen Vater getötet … Mit meinen eigenen Händen. Ich habe ihm die Augen mit diesem Finger hier ausgestochen …«
Er ließ einen Finger vor meinen Augen tanzen.
»Ich habe ihm das Genick gebrochen, mit bloßen Händen … Ich brauche nichts anderes, um einen Menschen zu töten … Kapiert?«
»Ja … Du tust mir weh …«
Ich zitterte. Und ich heulte. Aber ich schämte mich nicht, denn ich wusste, dass es Freddy ebenso ergangen wäre.
Der riesige Typ schaute mich an, fing dann plötzlich auch zu weinen an und ließ meinen Arm los.
Sofort schossen Freddy und ich wie zwei Blitze davon. Der Typ hat uns noch irgendetwas hinterhergebrüllt, ich hörte nur ein Echo, das so ähnlich klang wie:
»Geh bei Proust nachsehen!«
Freddy und ich sprinteten ins Dunkel, gar nicht so einfach, ohne sich auf die Nase zu legen. Auf einmal fing Freddy an loszulachen, und ich auch. Manchmal entlädt sich Angst in einem hysterischen Lachanfall, habe ich mal irgendwo aufgeschnappt, und danach ist wieder alles normal.
Freddy hob seinen Finger und ahmte den Riesen nach:
» Mit diesem Finger hier habe ich meinem Vater die Augen ausgestochen
…
«
» Ich habe ihm mit meinen eigenen Händen das Genick gebrochen
…
«
Wir konnten uns vor Lachen kaum halten.
»He, Charly … Dachtest du, er würde dich tatsächlich umbringen?«
»Keine Ahnung, jedenfalls hatte ich das Gefühl, er würde uns nie mehr loslassen.«
»Es hat ewig gedauert, was?«
»Ja …«
»Was glaubst du, wie spät es ist?«
Neuntes Kapitel
11 Uhr 10
»Was hat der Riese dir nachgerufen?«
»Geh bei Proust nachsehen!«
»Was ist Proust?«
»Die Bibliothek.«
»Warum sollst du dorthin gehen?«
»Keine Ahnung.«
»Und, gehst du hin?«
»Wahrscheinlich schon. Ich habe ja nichts anderes vor.«
Die Bibliothèque Proust liegt eine halbe Stunde Fußmarsch von dort entfernt, wo wir gerade waren. Man muss am alten Bahnhof vorbei, geht dann an den Gleisen entlang bis zur Sporthalle, durchquert den Parc Colette und ein Viertel mit Einfamilienhäusern, das gerade im Entstehen ist.
Freddy wollte mich bis zum anderen Ende der Cité Berlioz begleiten. Da ich gerade einen Irrsinnshunger hatte, hab ich ihn gefragt, ob er nicht etwas zu essen bei sich hätte.
»Nein, ich esse nur noch abends.«
»Warum das
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