Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
Vom Netzwerk:
denn?«
    »Ich trainiere.«
     
    Als wir die Cité Berlioz hinter uns ließen, hatte sich das Wetter geändert. Auf einmal schien die Sonne hinter den Wolken. Ich finde es immer seltsam, wenn ich nicht mitbekomme, wie das Wetter wechselt. Das ist ein Gefühl, als würde ich gar nicht existieren. Auch wenn ich weiß, dass sich das Wetter an vielen Orten ändert und dass ich nicht auf der Welt bin, um das mitzubekommen. Ich habe ja ein Stückchen Himmel, um das ich mich kümmern muss. Mein Stückchen Himmel. Das über meinem Viertel. Wenn ich nichts zu tun habe und der Wind weht, sehe ich gerne zu, wie die Wolken dahinziehen. Von meinem Zimmerfenster aus kann man sie gut beobachten. Ich habe einen freien Blick – das Gebäude gegenüber ist viel niedriger. Ich suche mir eine Wolke aus und verfolge sie. Wenn es viele sind, ist das gar nicht so einfach, denn sie ähneln sich sehr, ändern ständig ihre Form und werden kleiner. Wenn ich einer Wolke folge, frage ich mich, ob ich der Einzige bin, der sie betrachtet. Solche Gedanken machen mich verrückt. Ich frage mich nämlich weiter, ob ich wohl der Einzige bin, der sich sagt, dass er vermutlich der Einzige ist, der diese Wolke betrachtet. Mit mir ist echt etwas nicht in Ordnung. Wenn die Wolke sehr weit weg ist und ich sie schon beinahe aus den Augen verloren habe, überfällt mich ein Gefühl der Leere. Ich würde mir dann am liebsten mein Fahrrad schnappen und meiner Wolke hinterherfahren. Aber das mache ich doch nie. Meine Wolke setzt ihre Reise ohne mich fort, und vielleicht betrachtet ein anderer Junge sie unter seinem Vorstadthimmel.
    Was hier fehlt, sind die Sterne. Mann, es gibt hier nachts keine Sterne! Selbst wenn schönes Wetter ist, gleicht der Himmel einem schwarzen, fleckenlosen Tuch. Früher soll es angeblich viele gegeben haben. Aber sie sind einer nach dem anderen verschwunden. Madame Franck, die wir auch die alte Victoria nennen, hat uns erzählt, dass sich in der Nacht, in der damals der letzte Stern erloschen ist, alle Bewohner auf dem Dach des Rimbaud-Turms versammelt hatten, dem höchsten des Viertels. Stundenlang betrachteten die Turmmieter den Himmel, und als der letzte Stern plötzlich verglomm, applaudierten sie ihm und weinten bis zum Morgengrauen. Madame Franck sagt, es ist traurig, wenn ein Stern erlischt, denn er kommt nie wieder. Er ist dann für immer verloren. Es wird also wohl keinen Stern mehr an unserem Himmel geben. Allerdings ist die alte Victoria auch ein bisschen verrückt, oft hat sie das, was sie erzählt, nur geträumt. (Sie hat zum Beispiel behauptet, dass ihr Kater Simon die Reinkarnation ihres Vaters ist, der ebenfalls Simon hieß und in einem Konzentrationslager gestorben ist, und dass sie den Kater nach Auschwitz mitgenommen hat, wo er total Angst bekommen und sich am Stacheldraht festgekrallt hat und beinahe nicht mehr heruntergeklettert wäre.)
    Aber was ich noch zum Wetter sagen wollte: Mich regt immer auf, dass die Leute glauben, man wäre an die Sonne und die Hitze gewöhnt, weil man ja so schwarz ist.
    Ich wurde hier geboren, und die Sonne habe ich hiernicht so oft zu Gesicht bekommen. Ich bin eher ein Winterkind, und wenn es Sommer wird, geht es mir wie allen anderen auch: Ich komme um vor Hitze.
     
    Es war gut zehn Minuten her, seit Freddy und ich das Einkaufszentrum verlassen hatten.
    Wir durchkämmten das Berlioz-Viertel Haus um Haus nach Henry, als wir plötzlich zwei Polizisten fast in die Arme gelaufen wären.
    Ich bin wie angewurzelt stehen geblieben.
    »Was hast du denn?«
    »Da sind Polizisten.«
    »Na und?«
    »Also, ich weiß nicht … Vielleicht suchen sie mich, wegen der Sache mit meiner Mutter.«
    »Ja, stimmt. Scheiße.«
    Die Polizisten kamen auf uns zu, ob aus Zufall, ließ sich nicht sagen.
    Freddy fragte:
    »Was machen wir jetzt?«
    Ich überlegte zwei Sekunden und brüllte dann:
    »Abhauen!«
    Ich rannte los, Freddy hinterher.
    Als wir uns umdrehten, bekamen wir einen Riesenschreck, weil die Polizisten uns verfolgten, und zwar in verdammt schnellem Tempo.
    Freddy kannte die Cité besser als ich, daher ließ ich ihn einen Meter vorauslaufen. Er rief die ganze Zeit:
    »Da lang! Hier lang!«
    Die Sache mit dem Riesen steckte uns noch in den Knochen. Und nun rannten wir schon wieder weiter – als wären wir in einem Videospiel.
    Hinter uns brüllten die Bullen etwas von »Stehen bleiben!«
    Erst als wir wieder vor dem Einkaufszentrum ankamen, wurde uns bewusst, dass wir denselben Weg

Weitere Kostenlose Bücher