Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
wieder zu betonen. Ich verstehe den Zusammenhang nicht. Es kommt doch nicht darauf an, dass man ganz viele Bücher besitzt, sondern dass man sie liest! Mein Bruder Henry, der ein unermüdlicher Leser ist, hat zum Beispiel nie ein Buchbehalten, er hatte immer den Drang, es weiterzugeben, sogar an wildfremde Menschen. Er sah jemanden auf der Straße, drückte ihm das Buch in die Hand und sagte, er hätte es gelesen, es wäre ganz super. Na gut, Henry ist auch ein Spezialfall. Was ich meine, ist: Es gibt bestimmt Typen, die eine große Bibliothek besitzen, aber in ihrem Leben noch nie die Nase in ein Buch gesteckt haben. Und diese Art von Angeberei finde ich mies.
Ich streifte an den Regalen entlang. Sie sind hier streng alphabetisch nach Autoren geordnet. A beginnt ganz oben links, um diese Werke zu finden, muss man auf eine Leiter steigen.
Auf meiner Augenhöhe standen die Bücher mit P… Pagnol … Pascal … Péguy … Pennac … Perec … Perrault … Prévert … Proust … Dann kam R… Rabelais … Racine … Radiguet … Renart … Rimbaud … Vor Rimbaud hielt ich inne. Es gab drei Bücher. Zwei kleine,
Illuminationen
und
Eine Zeit in der Hölle
. Und ein dickes:
Gesammelte Werke
. Ich zog das erste kleine heraus und schlug es wahllos auf. Ich könnte Ihnen nicht mehr sagen, was ich gelesen habe, aber an einen Satz erinnere ich mich trotzdem, und wenn Sie Rimbaud kennen, wissen Sie Bescheid.
Du schreitest aus, und neue Menschen folgen deinen Spuren.
Wenn ich ein Buch oder ein Gedicht lese, versuche ich immer, mir ein oder zwei Sätze daraus zu merken. An die denke ich später oft, wenn ich mich langweile, oder vor dem Einschlafen. Auch wenn ich die Worte manchmal nicht so genau verstehe, sage ich mir, dass sie mir eines Tages klar vor Augen stehen werden. Das ist so, als würde ich ein Geschenk aufheben, das ich noch nicht ausgepackt habe.
Ich wäre gern noch geblieben, um Rimbaud zu lesen, wollte aber Henry finden und hatte außerdem einen derartigen Riesenhunger, dass ich eh nicht mehr denken konnte.
Ich stellte das Buch wieder zurück und hielt mich in Richtung Ausgang. Der Mann auf der anderen Seite des Tresens war hinter einem Stapel dicker Schmöker verschwunden. In dem Moment musste ich an das Buch von Rimbaud denken und daran, wie wahnsinnig gern ich es gelesen hätte. Und plötzlich machte ich kehrt. Ich ging zurück in den Hauptsaal, zur Abteilung R. Ich betrachtete die Bände von Rimbaud, ohne sie mir wirklich anzusehen, denn ich wusste, dass ich einen mitgehen lassen würde. Mein Herz fing wie wild an zu pochen. Obwohl es nicht das erste Mal war, dass ich ein Buch stahl. So ist das immer, und wenn Sie schon mal was geklaut haben, wissen Sie, was ich meine.
Ich drehte mich zum Eingang um.
Alles ruhig.
Ich griff nach dem Buch in der Mitte.
Dem kleinsten.
Ich betrachtete das Cover.
Une saison en enfer.
Eine Zeit in der Hölle.
Ich sah mich noch einmal um.
Niemand.
Schnell stopfte ich das Buch in meinen Hosenbund und zog meine Jacke darüber.
Als ich wieder auf der Straße war, bin ich ein paar Schritte geradeaus gelaufen. Dann rannte ich los. Ich spürte das Buch an meinem Bauch, die Kanten gruben sich in meine Haut. Aber ich wollte es jetzt auf keinen Fall hervorziehen.
Ich beschloss, weiter bis Saint-Ex zu laufen.
Das ist ein großes Viertel mit Bürotürmen und Lagerhallen, etwas außerhalb. Doch niemand wollte dort je arbeiten, und so standen die Gebäude von Anfang an leer. Die Grünflächen vergammelten, die Häuser wurden besetzt, bis die Stadtverwaltung irgendwann die Treppen und die Fußböden abreißen ließ. Heute wirkt Saint-Ex wie eine Geisterstadt. Total heruntergekommen. Man könnte das Ganze für einen Irrtum der Natur halten und dass alles nur darauf wartet, vollständig abgerissen zu werden. Ich bin mir sicher, dass jeder von uns Jungs im Umkreis mindestens eine Fliese zerstört hat. Das ist unsere Art der aktiven Teilnahme.
Das andere Mal, als ich ein Buch gestohlen habe, war ich mit Brice und Karim unterwegs.
Während der Ferien hatten wir uns im
Carrefour
herumgedrückt, weil uns langweilig gewesen war. Das Beste dort ist der Multimediabereich. Videospiele. DVDs. Handys. Bücher. Diese Abteilung haben sie gleich an den Eingang gepackt. Unmöglich zu übersehen, wenn man hereinkommt. Das machen die absichtlich, erklärte uns Brice, sie studieren das Verhalten der Leute, und danach richten sie ihre Läden so ein, dass sie ihnen so viel Geld wie
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