Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)
möglich aus der Tasche ziehen.
Echt frustrierend.
Die andere Abteilung, die ich sehr mag, ist die Spielzeugabteilung. Auch die befindet sich gleich beim Eingang. Aber ich will das jetzt gar nicht so herausposaunen, denn ich schäme mich ein bisschen deswegen. Sie verstehen schon: Ich bin über das Alter hinaus. Trotzdem lande ich immer wieder dort und sehe mich um.
Früher kaufte mir meine Mutter meistens etwas, wenn wir im
Carrefour
einkaufen gingen. Die Spielwaren waren immer unsere erste Station, und danach hatte ich es ganz eilig, wieder nach Hause zu kommen, um meine neue Errungenschaft einzuweihen. Mit der Zeit hörte das auf. Als Maman mir zum letzten Mal etwas kaufte, brauchte ich zwei Stunden, um mich zu entscheiden, und nichts gefiel mir wirklich. Ich konnte es selbst nicht fassen. Ich wählte irgendetwas aus, und zu Hause packte ich es nur halbherzig aus. Meine Mutter war tödlich beleidigt.
Brice, Karim und ich schauten uns die Bücher an. Karim liebt Comics. Er setzte sich in die Abteilung und laseinen schrägen Science-Fiction-Comic. Brice griff sich einen Reiseführer, so was wie
Die schönsten Orte der Welt
. Ich stöberte eine Weile herum und entschied mich schließlich für einen Band mit Fotos von Vorstadtkindern aus aller Welt. Die Fotos waren schrecklich. Und die Jungs darauf sahen aus, als wären sie schon fünfzig. Sie schauten direkt in die Kamera, und das machte das Ganze noch schlimmer. Hinter ihnen sah man ihr Stadtviertel. Straßen aus Sand mit Baracken aus verfaultem Holz, dicht an dicht. Auf einem Foto war ein Junge bei sich zu Hause abgelichtet. Bei ihnen war es so groß wie in einem Klo, ohne Fenster oder sonst was, auf dem Boden lag eine eklige Matratze für die ganze Familie. Was mich total aufwühlte, war eine Serie mit Fotos von einem Mädchen namens Gina, das in Kolumbien lebte. Man konnte sie in ihrem Alltagsleben beobachten. Sie war wunderschön und hätte bei uns im Viertel bestimmt viel Erfolg gehabt. Obwohl sie wahrscheinlich nicht älter als zwölf war, sah sie aus wie eine erwachsene Frau. Auch Gina wohnte in einer von diesen kleinen Baracken. Sie ging nicht zur Schule und half ihrer Mutter im Haushalt, bei der Wäsche und so. Auf einem Foto posierte sie mit ihren Eltern und ihren zehntausend Brüdern und Schwestern. Das Schockierende war, dass Gina am Nachmittag mit alten Typen für Geld ins Bett ging. Danach kam ein Foto, auf dem die ganze Familie abends zusammen in aller Ruhe vor dem Fernseher sitzt, so als ob nichts geschehen wäre. Und auch die alten Typen entdeckte man in der Runde.
Karim kam auf Brice und mich zu. Er wollte, dass wir gingen. Ich fragte ihn, ob er seinen Comic schon ausgelesen hätte, und er antwortete, nein, den würde er zu Hause zu Ende lesen. Da begriff ich, dass er sich den Comic unters T-Shirt gestopft hatte. Karim war ein Riese, er konnte so etwas tun, ohne dass es auffiel. Bei mir wäre der Comic oben an den Schultern wieder herausgekommen, und ich hätte ausgesehen wie ein panierter Fisch oder wie ein Flachbildschirm. Brice stand auf und steckte den Reiseführer ein. Der Führer war ziemlich dick, aber Brice ist auch nicht gerade schlank, und außerdem trägt er immer Hosen, die ihm zehn Nummern zu groß sind.
Mir wurde klar, dass meine Kumpels das, was sie klauen wollten, auch lesen würden.
Ich konnte schlecht das Buch mit den Fotos von den armen Vorstadtkindern mitgehen lassen, weil es riesig war. Aber ich wollte trotzdem etwas mitnehmen. Ich blickte mich rasch in der Abteilung um und erspähte eine Serie mit kleinen Büchern zu allen möglichen Themen. Heimwerken. Kochen. Wetter. Sport. Blumen. Meine Wahl fiel auf das Blumen-Buch, ich würde es meiner Mutter schenken, sie liebt so etwas.
Wir verließen den Laden, und obwohl der Typ vom Sicherheitsdienst ein bisschen komisch guckte, hat er nichts gesagt.
Als wir wieder zurück in unserer Siedlung waren, setzten wir uns auf die Stufen vor dem Eingang eines der Wohntürme. Karim und Brice zogen ihre Bücher hervorund lasen weiter. Ich machte mich ein bisschen lächerlich mit meinem Buch über Blumen. Außerdem hätte ich gerne das über die armen Kinder weitergelesen. Mist, wenn man so klein ist.
Am Abend überreichte ich das Buch meiner Mutter. Ich verpackte es und schrieb »Für Maman, die ich sehr liebe« drauf.
Meine Mutter war total gerührt, sie schaute das Buch drei Stunden lang an.
»Wo hast du das denn her?«
Ich konnte ihr schlecht sagen, dass es aus dem
Carrefour
war
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