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Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition)

Titel: Rimbaud und die Dinge des Herzens: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Samuel Benchetrit
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Ganze erklären müsste. Doch sie wollte nur, dass wir es wieder an seinen Platz stellten, im Regal.
    Als wir dort waren, blätterte ich noch mal in dem Buch über die armen Kinder herum. Ich bat meine Mutter nicht, es mir zu schenken, weil es furchtbar teuer war und ich noch unter Bewährung stand. Doch als ich es wieder hinlegte, fragte sie mich, ob das Buch mir gefiele, und da sagte ich, ja, unheimlich, und dann kaufte sie es mir, auch um mir zu zeigen, dass ich keine Bücher zu stehlen brauchte.
     
    Das Buch von Rimbaud habe ich nicht wirklich gestohlen, finde ich. Das sage ich jetzt nicht, um mich rauszureden oder so. Aber da es sich um eine Bibliothek handelt und ich ihren blöden Ausweis nicht habe, dachte ich mir, ich leih mir das jetzt ein paar Tage aus und bringe es wieder zurück, wenn ich fertig bin.
     
    Saint-Ex war genauso öde wie Malraux, Berlioz oder Colette. Allmählich fühlte ich mich einsam, weil ich niemandem begegnete. Ich blieb vor einem der verwahrlosten Gebäude stehen und setzte mich auf einen großen Betonblock. Über mir schwebten dicke Elektrokabel, die wie Bienen summten. In Filmen oder Comics sitzen immer Vögel auf den Elektrokabeln. Hier nicht. Die Vögel sind zusammen mit den Sternen verschwunden. Und wenn ich fliegen könnte, würde ich sicherlich nicht hier sitzen bleiben.
    Ich hob ein paar Steine auf, weil ich Fliesen zerdeppern wollte. Der erste, den ich warf, traf nicht einmal das Gebäude. Ich hatte nicht genügend Kraft im Sitzen. Also stellte ich mich auf den Betonblock und versuchte es noch mal. Diesmal schaffte es der Stein bis an die Mauer. Ich kniff ein Auge zu, um zu zielen. Ich wollte das Fenster im Erdgeschoss treffen. Also holte ich tief Luft und schleuderte den Stein mit aller Wucht. Ein Superschuss. Die Kachel zersprang in tausend Einzelteile. Ich bekam Angst. Ich nahm noch einen Stein, um auch das Fenster daneben zu zerschmettern. Ich kniff wieder das eine Augezu, doch in dem Augenblick, als ich ihn werfen wollte, entdeckte ich jemanden in dem Gebäude, hinter dem ersten Fenster, das ich zerdeppert hatte.
    Mir blieb das Herz stehen – war das ein Gespenst?
    Ich machte die Augen wieder auf und hatte plötzlich keine Angst mehr.
    »Henry!«
    »Charly!«
    »O Henry, ich habe dich überall gesucht!«
    »Was treibst du denn hier? Hast du keine Schule?«
    »Doch.«
    »Wie spät ist es?«

Zwölftes Kapitel

13 Uhr 25
     
     
    Ich lief zu dem Gebäude hinüber, zu Henry, der immer noch am Fenster stand. Überall lagen Glasscherben herum, aber das war mir egal, ich war überglücklich, meinen Bruder gefunden zu haben.
    »Henry! Ich freue mich so, dich zu sehen …!«
    »Was ist denn passiert?«
    »Es ist wegen Maman, die haben sie heute Morgen verhaftet …«
    Kaum hatte ich es gesagt, fing ich an loszuheulen. Normalerweise vermeide ich das, wenn Henry in der Nähe ist, aber mein Herz war so schwer, sollte er mich doch damit aufziehen, es war mir piepegal.
    Henry bewegte sich keinen Millimeter hinter seinem Fenster und starrte in die Ferne. Es war seltsam, ihn so zu sehen, man hätte meinen können, er wäre einer von den Alten bei uns im Viertel, die ihre Tage damit verbrachten, am Fenster zu stehen und hinauszugucken. Nur dass es sich im Fall meines Bruders um das Fenster einer Bauruine handelte, die von ödem Gelände umgeben war.
    »Wann ist das gewesen?«
    »Heute Morgen, als ich gerade zur Schule gehen wollte.«
    Er blickte immer noch in die Ferne. Ich drehte mich um, was es da zu sehen gäbe. Da war aber nichts. Das Gespräch würde sich also vermutlich in die Länge ziehen. Henry redet nicht viel, und es gibt ganze Tage, an denen er ununterbrochen schweigt. Meine Mutter sagt immer, ich würde für meinen Bruder und mich reden. Manchmal will ich ja gern die Klappe halten, aber es ist die Hölle. Ich muss einfach immer alles gleich loswerden.
    Ich wischte mir die Tränen ab und erzählte Henry, was sich heute Morgen ereignet hatte. Die Polizisten. Die Frau, die mit dabei war. Der Brief. Das Gesicht unserer Mutter. Die Sporttasche. Mein Lächeln. Ihr Blick. Der Polizeitransporter. Mein Traum. Malraux. Das Gitter am Schulhof. Karim, der mir von der Mutter von Mario Ferdine erzählt hatte, die mit den Drogen ihres Sohnes dealte, als der im Gefängnis saß. Die Mutter von Brice. Berlioz. Freddy Tanquin, der überzeugt war, dass meine Mutter für die Regierung arbeitete. Das stockdunkle Einkaufszentrum. Der Riese, der mich am Arm festgehalten und mir gesagt hatte, ich

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