Ringkampf: Roman (German Edition)
Flügel. »Vielleicht brauchen wir nicht das ganze Vorspiel. «
»Jouvain, Jouvain«, artikulierte Reginald stumm. Ohne einen Gesichtsmuskel zu bewegen, blätterte der Korrepetitor die Noten zurück. »Ich beginne acht Takte vor Einsatz Woglinde«, schnarrte er.
Mit Weia! Waga! sprang Elisabeth Raven-Winterfeld zum zweiten Mal an diesem Tag auf die verhuschten Sechzehntelläufe auf.
»Halt, Rheintöchter, könnt ihr noch mal einen Augenblick herhören«, versuchte sich der Regisseurgegen die wogenden Frauenstimmen durchzusetzen. Unbeirrt sangen die drei ihre Phrasen zu Ende. Irgendeine melodische Gottheit verbat Sängern, mitten in der Phrase aufzuhören.
»Wir müssen jetzt schauen, wie wir eure Bewegungen mit der Musik zusammenkriegen. Es ist absolut wichtig, daß ihr euch unabhängig von dem bewegt, was ihr singt. Ihr müßt eine Bewegungslinie für euch finden, die ihr dann ganz stur durchziehen könnt. Keine gestischen Verdopplungen der Musik. Ja? Gerade bei Wagnernicht. Denkt immer daran.«
Die Dramaturgin schloß die Augen. Seit vielen Jahren erlebte sie nun diese Springprozessionen. Sie war müde. Bleiern rauschte die Musik durch ihre Gehörgänge. Millionen von Tönen hatten sich in ihnen abgelagert. Eines Tages würden sie endgültig verstopft sein.
Sie kamen an der Stelle vorbei, an der sie abgebrochen hatten. Die Musik veränderte sich. Kantige Sechzehntelvorsprünge ragten aus dem Tonfluß hervor. Die Musik tröpfelte noch einige Takte weiter, dann versiegte sie ganz. Cora öffnete die Augen.
Der Regisseur blickte fragend vom Korrepetitor zum Klavierauszug und wiederzurück. »Was, was ist jetzt?«
Der Mann am Flügel erteilte die monotone Auskunft, daß dies eben Alberichs Einsatz gewesen war. Alexander Raven schob den angewachsenen Kaugummiklumpen zwischen die Backenzähne. »Ach so, ja dann, bitte, Herr, Herr – «
»Wolansky«, sekundierte Reginald.
Der junge Sänger erhob sich und blieb vor seinem Stuhl stehen.
»Von welcher Seite kommt er«, erkundigte sich der Regisseur. Cora gähnte und schaute ins Buch. »Hinten rechts«, sagte sie.
»Also, Herr Wolansky«, erklärte Alexander Raven, »Sie treten von rechts auf. Später im richtigen Bühnenbild haben Sie dann eine kleine Öffnung, aus der Sie herauskommen. Am Anfang halten Sie sich noch im Hintergrund. Sie sind zwar unglaublich geil auf die Rheintöchter, aber im Grunde Ihres Herzens wissen Sie ganz genau, daß Sie keine Chance haben. Erst wenn die drei Sie heranlocken, werden Sie unvorsichtig und trauen sich hervor. Ihnen muß der Geifer runterlaufen, wenn die erste Sie an ihre Flosse ranläßt. Ja? Betatschen Sie sie, küssen Sie die Schwänze ab, die die drei Ihnen hinhalten. Bis Sie merken, daß es nur ein grausames Spiel ist. Die drei reizen Sie wie – wie einen Hund, vor dessen Nase man mit einer Wurst wedelt, nur um sie dann wieder wegzuziehen,
wenn er nach ihr schnappt. Ja? Genau so müssen Sie zwischen den Schaukeln hin- und herspringen. Werden Sie zum rasenden Köter! Steigern Sie sich in eine totale Vergewaltigungswut hinein!«
Wie ein Zinnsoldat hatte der Sänger den Ausführungen gelauscht. Auch jetzt stand er reglos vor seinem Stuhl.
Reginald räusperte sich. »Herr Raven, Sie sollten in Zukunft vielleicht darauf achten, ein wenig langsamer zu reden. Für Herrn Wolansky ist dies die erste Produktion hier im Ausland. Ich vermute, er konnte dem, was Sie gesagt haben, nicht ganz folgen.«
Alexander Ravens Augenbrauen schossen zusammen. »Was soll das heißen? Du meinst, er kann nicht richtig deutsch?«
»Nein, das würde ich so direkt nicht sagen«, korrigierte Reginald. »Ich bringe es ihm bei. Er zeigt täglich Progreß.«
Im Nervenkostüm des Regisseurs traten die ersten dünnen Stellen hervor. »Menschenskinder, wie soll ich denn mit so jemandem arbeiten! Das geht doch nicht!« Seine Hand donnerte auf die Tischplatte. Er brauchte einige Sekunden, bis er sich wieder im Griff hatte. »Welche Sprachen versteht er denn?«
Reginald hielt die Luft an. »Polni’ch und Russi’ch«, flüsterte ertonlos.
»Polnisch und Russisch«, brüllte Alexander Raven. »Mein Gott, das ist unmöglich. Das ist ja völlig unmöglich. « Er riß sich die Brille herunter und bedeckte seine Augen.
»Ist hier jemand, der polnisch oder russisch spricht«, fragte ermühsam beherrscht.
Sein Assistent warf dem Mann am Flügel bettelnde Blickezu. »Ivan, du könntest doch übersetzen, oder?«
Der Korrepetitor schaute stur in seine Noten.
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